Auszüge aus veröffentlichter Primärliteratur zu Gesellschaft, Wissenschaft und Technik in der DDR und Bundesrepublik Deutschland. Diese Zitate sollen die Diskussion der Heftbesprechungen im Digedags-Forum unterstützen. Der Text wurde digitalen Medien (CD-ROM) entnommen. Flüchtigkeits- und Übertragungsfehler bitte ich unkommentiert zu entschuldigen. Hier geht es zur Hauptseite: www.mosafilm.de


Zitat aus: "Digitalen Bibliothek Nr. 78, Archiv der Gegenwart, Deutschland 1949 bis 1999, S. 11707-11717 © Siegler Verlag GmbH, Sankt Augustin, 2000


20.02.1958: Deutschland (West-) (Ost-)

Ulbricht und Lemmer über deutsche Konföderation und Wiedervereinigung

Der erste Sekretär des ZK der SED Walter Ulbricht gewährte einem Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung am 13. Februar ein Interview.

Ulbricht verwies auf die Erklärung der Regierung der DDR vom 27. Juli 1957, die den Vorschlag zur Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten näher umschrieb und sagte laut Neues Deutschland u.a.:
»Wie können wir uns die Sache praktisch vorstellen? Zwischen den Regierungen der DDR und der Bundesrepublik würde zunächst ein völkerrechtlicher Vertrag über die Bildung eines Staatenbundes abgeschlossen. Es gibt bei Ihnen Leute, die noch immer auf dem Standpunkt stehen, daß die DDR von Westdeutschland vereinnahmt werden soll.
Sie müssen grundsätzlich abgehen von der Konzeption einer Annexion der DDR; jeder Bürger der DDR, der die Sicherung des Friedens und die Wiedervereinigung will, wird Ihnen auf all die technischen Vorschläge antworten: Wir lieben auch die Technik, aber zunächst möchten wir von Ihnen wissen, ob Sie für die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone sind und für die Politik der Verständigung durch Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten. Bei Bildung der Konföderation haben beide Seiten das Recht, alle Fragen zu stellen, die sie für zweckmäßig halten.
Nun behaupten die Bundesregierung und ihre Klopffechter, wir beabsichtigten mit der Konföderation Westdeutschland unsere Ordnung aufzuzwingen. Das haben wir niemals geglaubt.
Aber andererseits wissen wir, daß die Bonner Regierung eine unterminierende Tätigkeit gegen die DDR ausübt. Deshalb erscheint es uns zweckmäßig, bis allmählich dieses Mißtrauen beseitigt ist, zunächst keine über den beiden Staaten stehende selbständige Staatsgewalt zu schaffen und auf diese Weise jede Möglichkeit der Beherrschung des einen deutschen Staates durch den anderen deutschen Staat auszuschließen. Natürlich brauchen wir gemeinsame gesamtdeutsche Körperschaften, die aber zunächst noch keine eigene Exekutivgewalt, sondern vor allem beratende und empfehlende Funktionen hätten. Das heißt, es könnte in beiden Teilen Deutschlands aus Vertretern der Regierungen und der Parlamente ein Gesamtdeutscher Rat gebildet werden, der solche Maßnahmen vereinbaren und den beiden Regierungen zur Annahme empfehlen könnte, die der schrittweisen Annäherung der beiden deutschen Staaten dienen. Es ist klar, dieser gesamtdeutsche Rat wäre noch keine gesamtdeutsche Regierung, aber er würde bei beiderseitigem guten Willen den Weg zu einer gesamtdeutschen Regierung bahnen. Die Voraussetzungen für die Bildung einer Konföderation sind eine Entspannung der Lage und der Verzicht Westdeutschlands auf die Stationierung von Atomwaffen und Raketen, sowie die Einstellung der Kriegspropaganda und Verfolgung der Friedenskämpfer und Demokraten in Westdeutschland. Sie verstehen sehr gut, daß, solange aus Westdeutschland amerikanische Atomkanonen gegen die DDR gerichtet werden und mit Plänen einer Annexion der DDR gespielt wird, von einer Entspannung und Annäherung wohl nicht gesprochen werden kann.
Die Eingliederung Westdeutschlands in die Montanunion, in den Nord-Atlantikpakt und in die westeuropäische Union haben die schwersten Folgen für die innenpolitische und wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands. Das nationale Interesse unseres Volkes auf Erhaltung des Friedens und Wiedervereinigung Deutschlands erfordert also energische Maßnahmen der westdeutschen Bevölkerung zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Westdeutschland. Jeder vernünftige Mensch versteht doch, daß das Verbot der Freien Deutschen Jugend, der Kommunistischen Partei Deutschlands, des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands und anderer Organisationen gegen eine Entspannung der Lage in Deutschland gerichtet ist, denn solche Maßnahmen mußten und müssen zu Gegenmaßnahmen der DDR führen.
Im übrigen betrachten wir als Minimalvoraussetzung auf beiden Seiten den guten ehrlichen Willen, zu einer Verständigung zwischen den beiden deutschen Staaten zu kommen. Bei uns ist dieser gute Wille vorhanden. Bei der Regierung der Bundesrepublik allerdings sind vorerst nicht einmal die primitivsten Ansätze eines solchen guten Willens sichtbar.
Die vordringlichsten Aufgaben der gesamtdeutschen Gremien einer Konföderation wären die eingangs geschilderten grundlegenden nationalen Aufgaben. Das heißt Sicherung des Friedens für das deutsche Volk und für Europa, Förderung der Einheit unserer Nation, Wiederherstellung und Sicherung der Demokratie in der Bundesrepublik.
Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat vorgeschlagen, daß die gesamtdeutschen Gremien eine Reihe Maßnahmen zur Annäherung der beiden deutschen Staaten und der Vorbereitung ihrer schließlichen Verschmelzung beraten und vorschlagen sollten. Das könnten Absprachen sein auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Verbindungen, auf dem Gebiete der Zoll- und Währungsangelegenheiten, des Verkehrs- und Nachrichtenwesens, der Regelung der mit dem Status von Berlin verbundenen Fragen, der Trockenlegung des Agenten- und Spionagesumpfes in Westberlin, der Erleichterung des Verkehrs innerhalb Berlins usw. usw. Darüber hinaus sollte der Gesamtdeutsche Rat der Konföderation alles prüfen, was geeignet erscheint, den Prozeß der Wiedervereinigung zu fördern und zu beschleunigen.
Sie haben die Frage gestellt nach der Ausdehnung unserer sozialistischen Errungenschaften auf Westdeutschland. Das ist ein Mißverständnis. Wir schlagen nicht vor, daß mit dem Abschluß der Konföderation unsere volksdemokratische Ordnung und die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen der DDR auf Westdeutschland übertragen werden.
Welche Errungenschaften schließlich in Westdeutschland verwirklicht werden, das werden die Arbeiter und ihre Gewerkschaften sowie die breiten Schichten der Werktätigen selbst bestimmen. Wir werden in der DDR so arbeiten, daß die DDR zum Beispiel für die Werktätigen in Westdeutschland wird. Unsere sozialistischen Errungenschaften werden in Westdeutschland bekannt werden, das kann auch kein eiserner Vorhang verhindern.
Doch im Zusammenhang mit der Konföderation stellen wir nicht die Frage des Sozialismus in Westdeutschland.
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu einem einheitlichen demokratischen Deutschland ist kein einmaliger Akt, sondern ein Prozeß. Heute schon einen Termin zu nennen, an dem Wahlen - und Sie meinen offenbar gemeinsame Wahlen - in Deutschland stattfinden können, wäre reine Spekulation.
Solche Wahlen können stattfinden, wenn die Verhältnisse hierfür reif sind. Wenn die Annäherung der beiden deutschen Staaten so weit gediehen ist, daß keine Gefahr mehr besteht, daß der eine deutsche Staat den anderen an die Wand zu quetschen beabsichtigt, wenn schließlich auch in Westdeutschland die Voraussetzungen für wirklich freie demokratische Wahlen geschaffen sind.
Wer bei der Durchführung solcher Wahlen Kontrolle durch Ausländer fordert, der schlägt unserer nationalen Würde ins Gesicht. Kürzlich wurde einmal der Vorschlag gemacht, gesamtdeutsche Wahlen durch Vertreter Pakistans, Israels oder der Philippinen kontrollieren zu lassen. Wir brauchen von solchen Staaten keine Belehrung über Demokratie. Wenn wir gesamtdeutsche Wahlen durchführen, werden wir Deutschen selber zu entscheiden wissen, was wir zu tun haben.
Die mit der Konföderation geschaffenen gesamtdeutschen Gremien werden hinreichend Gelegenheit haben, sich über die Einzelheiten der Wahlen, das Wahlsystem usw. schlüssig zu werden. Wenn die Entwicklung erst einmal bis zu diesem Punkt gediehen ist, dann werden die Wahlformalitäten keine Schwierigkeiten machen. Nehmen wir doch unseren Juristen nicht alle Arbeit ab, sie sollen doch auch noch etwas zu tun haben.
Die Frage der Errungenschaften und ihre Beurteilung betrachten wir also nicht einseitig als eine Angelegenheit von uns, der Vertreter der Arbeiter- und Bauernmacht, sondern auch als Angelegenheit der westdeutschen Arbeiter und Bauern.
Ich sage Ihnen ganz offen: mich interessiert zu hören, was die westdeutschen Arbeiter und Bauern vorschlagen. Wir haben nicht die Absicht, Ihnen unsere Gesetze vorzulegen und zu sagen: Das sind die glänzenden Errungenschaften, die wir erreicht haben! -Daß das große Errungenschaften sind, daran zweifelt hier niemand. Aber vielleicht sagt ein westdeutscher Gewerkschaftsvertreter: in dieser und jener Frage wünschen wir das anders - Bitte schön! Wenn ein gesamtdeutscher Rat gebildet wird, dann werden wir von der DDR namhafte Gewerkschaftsvertreter mit in diesen Rat schicken. Wir werden echte Bauernvertreter mitschicken. Vielleicht schickt man aus Westdeutschland Juristen. Wir werden wirklich diejenigen schicken, die die entscheidenden Kräfte des Volkes vertreten.
Wir bestehen nicht darauf, daß bei gesamtdeutschen Wahlen unser Wahlsystem angewendet wird. Aber wir wünschen, daß die Bundesrepublik auch nicht auf ihrem Wahlsystem besteht, sondern daß wir uns darüber, wie es sich gehört, verständigen.

Der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer nahm am 20. Februar in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung zu den Äußerungen Ulbrichts Stellung.

Lemmer sagte laut FAZ, eine Konföderation setze die Verbindung von Gleichem mit Gleichem voraus. Die »entscheidende Schwierigkeit« sieht Lemmer darin, daß die Republik Ulbrichts ohne demokratische Legitimation sei. Solange diese nicht beigebracht sei, werde man immer vor der Schwierigkeit stehen, daß Ungleiches mit Gleichem verbunden werden solle. Gesamtdeutsche freie Wahlen werden nach Ansicht des Ministers nicht an erster Stelle einer Wiedervereinigung stehen: »Am Anfang steht die Verständigung zwischen den Mächten, die das Schicksal unseres Volkes 1945 in die Hand genommen haben. Dann erst käme die Wahlkommission mit ihren begrenzten Aufgaben, aber nicht als Surrogat für eine fiktive Regierungsgewalt.« Die nächste Phase sei die Durchführung der Wahl. Die Wahlkommission sollte aus Vertretern beider Teilgebiete bestehen und, nach einer Einigung der vier Mächte, die Vorbereitung der Wahlen nach deren Direktiven übernehmen. Das Weimarer Wahlrecht könnte nach Ansicht Lemmers die Grundlage für gesamtdeutsche Wahlen abgeben. Zur Zusammensetzung der Wahlkommission sagte Lemmer: »Da möchte ich an Großzügigkeit hinter Herrn Ulbricht nicht zurückstehen. Die zahlenmäßige Zusammensetzung ist eine drittrangige Frage, weil ja nur durch eine praktische Verständigung Ergebnisse erzielt werden können.« Ferner erklärte der Minister, die Wiedervereinigung werde sich voraussichtlich so abspielen, daß ein gegenseitiges Nehmen und Geben stattfinde: »Wir sind nicht so hochmütig nun zu glauben, daß wir in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatspolitischen Dingen bereits die Vollendung darstellen. Ich wünschte, daß die Herren drüben ein ebensolches Maß von innerer Bescheidenheit zeigen würden.« Lemmer stimme, so sagte er, mit Ulbricht auch darin überein, daß »die deutsche Wiedervereinigung wahrscheinlich ein Prozeß« sein werde: »So ist es selbstverständlich denkbar, daß zunächst extrem-föderalistisch, also konföderativ, der Anfang für die neue deutsche Staatsbildung vor sich geht, aber immer wieder kann ich nur die Frage aufwerfen, daß die Elemente, die hier eine solche Föderation bilden sollen, in ihrem Kern wenigstens eine gewisse Übereinstimmung haben müssen.« Als Minimal-Voraussetzungen, die in der Zone erfüllt sein müßten, nannte Lemmer die Möglichkeit für die mitteldeutsche Bevölkerung, ihr Parlament in einer echten, freien und geheimen Wahl zu wählen. Als eine Ausflucht Ulbrichts bezeichnete es Lemmer, daß Ostberlin technische und menschliche Kontakte zwischen der Bundesrepublik und der Zone jetzt in die Zuständigkeit einer Konföderation verlegt wissen wolle und solche Kontakte nur als Unterminierung der »DDR« betrachte: »Ich persönlich bin kein Freund jeder illegalen Tätigkeit, auch nicht der Nachrichtendienste, und habe aus meiner Abneigung niemals ein Hehl gemacht. Aber ich weiß, daß bis zu einem gewissen Grade nun einmal solche Erscheinungen leider unvermeidlich sind. Daß das Staatswesen des Herrn Ulbricht davon eine Ausnahme macht, wird er ja niemals zu behaupten versuchen. Ich würde den Abbau aller Erscheinungen des Kalten Krieges begrüßen.« Später sagte Lemmer zu den Ostberliner Vorwürfen einer »Agenten-Tätigkeit«: »Ich wäre glücklich, wenn es gelänge, diese sogenannte Agenten-Tätigkeit in der vier-Mächte-Stadt auf beiden Seiten zu liquidieren. Ich erinnere sie daran, daß beide Teile Berlins nach wie vor unter Besatzungsrecht stehen.«
Besonders betonte Lemmer, daß nach einer Wiedervereinigung die Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei in keiner Weise verfolgt werden dürften. Im übrigen äußerte er sich zur Frage der Wiedervereinigung optimistisch: »Ich möchte mich zu der Auffassung bekennen, daß wir uns nicht in einer Sackgasse befinden.«