Auszüge aus veröffentlichter Primärliteratur zu Gesellschaft, Wissenschaft und Technik in der DDR. Diese Zitate sollen die Diskussion der Heftbesprechungen im Digedags-Forum unterstützen. Der Text wurde Printmedien entnommen, Flüchtigkeits- und Übertragungsfehler bitte ich unkommentiert zu entschuldigen. Hier geht es zur Hauptseite: www.mosafilm.de


Zitat aus: Charles Van Doren "Geschichte des Wissens", Lizenzausgabe Weltbild GmbH 2003, dt. Ausgabe 1996, S. 61-65

Heft 27, Seite 17/18

Lösung eines Rätsels
durch den Lehrsatz des
Pythagoras


Die Erfindung der Mathematik:
Die Pythagoräer


Die Insel Samos liegt einige Kilometer vor der ionischen Küste, nicht weit von Milet. In alten Zeiten war sie ein wohlhabender Stadtstaat, der mit anderen ionischen Stadtstaaten um die Führung im griechischen Kleinasien wetteiferte. Samos erreichte die Höhe seiner Macht unter Polykrates, der 532 vor Christus Tyrann der Stadt wurde. Polykrates war offenbar ein aufgeklärter Despot; Bildhauer, Maler und Dichter fühlten sich in seinem Inselreich wohl. Aber mit dem berühmtesten Mann in Samos kam er nicht gut aus.
Das war Pythagoras, der um 580 vor Christus in Samos geboren worden war. Weil er Polykrates nicht mochte oder nicht anerkannte, verließ er Samos in dem Jahr, in dem der Tyrann an die Macht kam, und reiste mit einigen seiner Anhänger nach Süditalien, wo er eine Art von Philosophengemeinschaft errichtete, eine Bruderschaft, die von Pythagoras selbst geleitet wurde. Um ihn bildeten sich viele Mythen, beispielsweise die, er habe eine goldene Hüfte. Seine Anhänger gebrauchten niemals seinen Namen, sondern sprachen von ihm nur als «jener Mann» und begründeten die Wahrheit ihrer Aussagen mit der Behauptung: «Jener Mann sagt es!» (Ipse dixit).
Der Stolz und auch die mystische Begeisterung des Pythagoras und seiner Jünger fanden bei seinen neuen italienischen Nachbarn wohl ebensowenig Gefallen wie auf Samos, und nach wenigen Jahren schon wurden die Philosophokraten aus Kroton, dem heutigen Crotona, vertrieben. Pythagoras zog in das nahe Metapont in der Bucht von Tarent, wo er sich, wie man sagt, um das Jahr 500 vor Christus zu Tode gehungert hat. Die Zeitgenossen des Pythagoras haben ihm viele mystische Auffassungen zugeschrieben. So behauptete er beispielsweise, sich daran zu erinnern, die Körper von vier Männern bewohnt zu haben, die vor seiner Zeit lebten. Einer war der Soldat, der in der <Ilias> Patroklos, den Freund des Achill, so schwer verwundete, daß Hektor ihn töten konnte. Pythagoras glaubte an die Seelenwanderung, eine Lehre, die er von den Ägyptern gelernt haben könnte und die er anscheinend an Platon weitergab. Kopernikus, der große Astronom der frühen Neuzeit, behauptete, er habe die Idee des sogenannten kopernikanischen Systems von Pythagoras übernommen, obwohl nicht bekannt ist, wie Pythagoras sich das Sonnensystem vorstellte.
Pythagoras ist anscheinend auch der Erfinder der Idee der Sphärenmusik, was zu seinen allgemeinen Gedanken über die Mathematik paßt. Eines Tages, so erzählt die Legende, als er ein Musikinstrument auf dem Schoß hielt, wurde ihm klar, daß die Einteilung einer festgespannten Saite, die Töne erzeugt, sich als einfache Verhältnisse zwischen Zahlenpaaren wie 1 und 2,2 und 3 oder 3 und 4 beschreiben ließ. Iamblichos berichtet: «Pythagoras ging einmal an einer Schmiede vorbei, als er gerade darüber nachdachte, ob man für das Gehör ein Gerät als Hilfsmittel ersinnen könne wie für den Tastsinn die Waage oder die Maße. Da hörte er, wie die Hämmer das Eisen auf dem Amboß schlugen und im Wechsel der Klänge einander in harmonischen Intervallen antworten ließen. Er erkannte darin Oktave, Quinte und Quarte ... Er fand durch mancherlei Versuche heraus, daß der Unterschied in der Tonhöhe von der Masse des Hammers abhängt. Da stellte er das Gewicht der Hämmer aufs genaueste fest, kehrte nach Hause zurück und untersuchte den Klang der Saiten, die durch verschiedene Gewichte gespannt waren. Diese außerordentliche Beziehung erstaunte Pythagoras, der ein Musikliebhaber war, denn es erschien ihm höchst merkwürdig, daß es einen Zusammenhang zwischen Zahlen einerseits und den Tönen einer Saite andererseits geben sollte und daß Klänge einen Hörer zu Tränen rühren oder seinen Geist erheben können.

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Beim Nachdenken darüber spürte Pythagoras, daß Zahlen auf materielle Dinge starken Einfluß haben können. Er und seine Schüler kamen bald zu dem Schluß, das Wesen der Wirklichkeit sei die Zahl, Dinge seien also Zahlen und Zahlen Dinge. So wurde die enge Beziehung zwischen der Mathematik und der materiellen Welt entdeckt, die seit jener Zeit Denker sowohl inspiriert als auch verwirrt hat. Wahrscheinlich verstand Pythagoras selbst nicht sehr gut, wovon er sprach, als er versuchte, die Außenwelt in mathematischen Begriffen zu beschreiben. Vieles von dem, was er sagte, war mystisch, wenn es überhaupt einen Sinn hatte. So soll er beispielsweise gemeint haben, die Zahl 10 sei die Zahl der Gerechtigkeit, weil sich die Zahlen 1, 2,3 und 4 zu einem Dreieck anordnen lassen und ihre Summe 10 ist.

Aber seine Einsicht, daß es in der wirklichen Welt etwas gibt, das sich mathematisch und vielleicht nur mathematisch verstehen läßt, war einer der großen Fortschritte in der Geschichte menschlichen Denkens. Wenige Gedanken haben sich als fruchtbarer erwiesen. Nach dem Tod von Pythagoras setzten seine Anhänger ihre mathematischen Forschungen fort, obwohl sie wegen ihrer politischen Ansichten von einer Stadt zur nächsten gejagt wurden, und sie schrieben all ihre wichtigen Entdeckungen posthum ihrem Meister zu. Eine solche Entdeckung war der Beweis des sogenannten pythagoräischen Satzes, wonach in einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat über der dem rechten Winkel gegenüberliegenden Seite, der Hypotenuse, gleich der Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten ist. In einigen Spezialfällen war das bereits den Babyloniern bekannt, zum Beispiel wenn die Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks drei, vier und fünf Maßeinheiten lang sind, hat das größte Quadrat 25 Flächeneinheiten, und das ist die Summe von 9 und 16. Die pythagoräische Leistung war der allgemeine Beweis des Satzes. Da jedes in einen Kreis eingeschriebene Dreieck, dessen Hypotenuse der Durchmesser ist, rechtwinklig sein muß (ein Satz, der ebenfalls zuerst von den Pythagoräern bewiesen wurde) und weil solche in Halbkreise eingeschriebenen Dreiecke Grundlage der Trigonometrie sind, ist der Lehrsatz des Pythagoras eine der nützlichsten mathematischen Wahrheiten.
Die mathematische Forschung der Pythagoräer fand um die Mitte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts ein Ende. Die Bruderschaft blieb immer ein Ärgernis und wurde schließlich aufgelöst. Aus unserer Sicht ist von größter Bedeutung, daß die Forschung ein Ende fand, weil die Pythagoräer im Lauf ihrer Arbeit auf ein so schwieriges und ihrer Meinung nach gefährliches Problem stießen, daß sie nicht wußten, wie sie damit umgehen sollten. Das Problem ist dieses: Nicht bei allen rechtwinkligen Dreiecken lassen sich, wie in dem einfachen Beispiel, alle Seitenlängen in ganzen Zahlen angeben, sondern rechtwinklige Dreiecke mit ganzzahligen Seitenlängen sind im Gegenteil verhältnismäßig selten. Die allermeisten rechtwinkligen Dreiecke, bei denen die beiden Schenkel ganzzahlig sind, haben keine ganzzahlige Hypotenuse.
Schon das allereinfachste Dreieck stellt, wie die Pythagoräer fanden, ein Problem dar. Man denke sich ein rechtwinkliges Dreieck, dessen Schenkel beide die Länge 1 haben. Das Quadrat von 1 ist 1, und das über der Hypotenuse ist 2, weil 1 + 1 = 2 ist. Aber 2 ist keine Quadratzahl, denn es gibt keine ganze Zahl, die mit sich selbst multipliziert zwei ergibt. Wie die Pythagoräer herausfanden, ist die Quadratwurzel aus 2, die Zahl also, die mit sich selbst multipliziert 2 ergibt, eine wirklich seltsame Zahl, weil sie sich nicht als Verhältnis zweier ganzer Zahlen ausdrücken läßt, also keine rationale Zahl ist. (Rationale Zahlen oder Brüche sind Zahlen wie 2/3 oder 4/17). Wenn die Quadratwurzel aus 2 aber kein Bruch ist, also keine rationale Zahl, ist sie irrational - und das war für die Pythagoräer ein schrecklicher Gedanke.
Warum schreckte sie das? Weil sie die Zahl für das Wesen der Wirklichkeit hielten, also Zahlen für Dinge und Dinge für Zahlen. Und auch wegen der Erkenntnis des Thales, die allen Forschungen der Pythagoräer zugrunde lag, wonach die Welt vom menschlichen Verstand begriffen werden kann. Die Macht des menschlichen Verstands aber ist die Vernunft, die ratio des Menschen. Wenn die Welt irrational ist oder wenn es in ihr Irrationales gibt, dann mußten entweder Thales oder Pythagoras Unrecht haben - und falls beide recht hatten, mußte es im Menschen Irrationalität geben, die der Irrationalität in der Natur entspricht. Aber wie konnte Unvernunft irgend etwas wissen, geschweige denn die Welt verstehen?
Es ist den Pythagoräern hoch anzurechnen, daß sie nicht versuchten, Widersprüche zu leugnen, sondern daraus zu lernen. Sie stellten sich der Aufgabe und gaben zu, daß es irgendwo ein tiefes Ungleichgewicht geben mußte. Das brauchte Mut. Aber ihr Mut reichte nicht aus, um weiterzumachen und das Problem zu Ende zu denken. Die Schwierigkeit lag in ihrer mystischen Überzeugung, alle Dinge, auch die Welt selbst, seien Zahlen. Uns schreckt das Problem, das die Pythagoräer nicht lösen konnten, nicht mehr. Wenn etwa Reales, beispielsweise das Verhältnis der Seite zur Diagonale eines Quadrats, sich nicht durch eine rationale Zahl beschreiben läßt, braucht es selbst noch nicht in irrational in dem Sinn zu sein, daß man nicht vernünftig darüber nachdenken oder es verstehen kann. Wir haben begriffen, daß Zahlen etwas anderes sind als Dinge, obwohl Zahlen und Dinge weiterhin die enge Verwandtschaft aufweisen, die die Pythagoräer als erste erkannten. Heute verwenden wir noch geheimnisvollere Zahlen als die irrationalen Zahlen, die die Pythagoräer entdeckten. Irrationale Zahlen haben ihren Schrecken verloren; jede solche Zahl läßt sich als unendliche Dezimalzahl schreiben, auch die berühmte Zahl q, das Verhältnis zwischen so einfachen Dingen wie dem Umfang und dem Durchmesser eines Kreises. Neben diesen reellen Zahlen (das sind alle Zahlen, die sich als Dezimalzahl darstellen lassen) gibt es die sogenannten imaginären Zahlen, die man auf der Suche nach Zahlen erfindet, deren Quadrat eine negative Zahl ist, und die sogenannten komplexen Zahlen, die Summen einer reellen und einer imaginären Zahl sind. Und es gibt viele Arten von Zahlen, die selbst diese noch an Komplexität und, so könnten Mathematiker sagen, an Schönheit übertreffen.
Die Pythagoräer meinten vielleicht, es könne in der wirklichen Welt keine irrationalen Zahlen geben. Aber wenn nicht dort, wo sonst? Öffneten diese seltsamen und vermeintlich gefährlichen Zahlen eine Tür in das Chaos, das die Griechen immer fürchteten? Waren sie die Zeichen oder Symbole unbekannter, mißgünstiger Götter? Vielleicht hörten die Pythagoräer und andere griechische Mathematiker um die Mitte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts deshalb auf, schöpferisch Mathematik zu betreiben.
Euklid stellte seine berühmten <Elemente der Geometrie> um 300 vor Christus zusammen; dieses großartige Lehrbuch, fast so berühmt wie die Bibel, war noch vor kurzem in vielen Schulen des Abendlandes in Gebrauch. Euklid selbst war ein unvergleichlicher Lehrer, aber kein kreativer Mathematiker. Die Forschung wurde auf den Gebieten der Mechanik, Astronomie und in einigen anderen mathematisch beeinflußten Fächern fortgesetzt. Aber der große schöpferische Impuls fehlte.

Auch in der neueren Geschichte ist wissenschaftliche Arbeit gelegentlich zum Stillstand gekommen; jedenfalls hat Stillstand gedroht. Nach dem zweiten Weltkrieg drangen viele Menschen, Wissenschaftler wie Nichtwissenschaftler darauf, keine weitere Forschung auf dem Gebiet der Atomenergie zu betreiben, weil sie für das Leben auf der Erde eine Bedrohung darstellen könnte. In unserer Zeit sind Stimmen zu hören, die die Biotechniker auffordern, ihre Versuche zur Genmanipulation einzustellen. Allen Gefahren zum Trotz ist es in keinem dieser Fälle zur Einstellung gekommen. Sind wir mutiger als die Pythagoräer? Vielleicht. Oder sind wir leichtsinniger?