Auszüge aus veröffentlichter Primärliteratur zu Gesellschaft, Wissenschaft und Technik. Diese Zitate sollen die Diskussion der Heftbesprechungen im Digedags-Forum unterstützen. Der Text wurde Printmedien entnommen, Flüchtigkeits- und Übertragungsfehler bitte ich unkommentiert zu entschuldigen. Hier geht es zur Hauptseite: www.mosafilm.de


Zitat aus: Ernst Behrendt, Zeitschrift "hobby" Das Magazin der Technik, EHAPA-Verlag GmbH Stuttgart, Artikel "Die Geisterstraße von Nebraska", Heft 04/1958, S. 68-73

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Die Geisterstraße von Nebraska

von Ernst Behrendt

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Im "Blindflug" über die Autobahn - Ein phantastisches Projekt und Wirklichkeit: Autofahren im Schlaf

Ein Chevrolet jagt über die Landstraße. Er nähert sich einer bestimmten Kreuzung. Der Mitfahrer schaut aus dem Fenster und winkt der kleinen Gruppe von Männern zu, die in der charakteristischen Haltung von Spitzen der Behörden, die einem wichtigen Ereignis beiwohnen, am Straßenrand stehen.
Der Wagen passiert die Kreuzung. lm gleichen Augenblick drückt der Mitfahrer auf einen Hebel, und vor die Windschutzscheibe senkt sich ein undurchsichtiger dunkler Vorhang. Den Fahrer scheint das nicht im geringsten zu stören; er denkt nicht daran, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen -- der Wagen jagt in unvermindertem Tempo weiter. Neben ihm, am Straßenrande, flammt ein Licht auf, ein zweites, ein drittes. Die Lichter leuchten einige Sekunden und verlöschen, sowie der Wagen 100 Meter weiter ist. Aber vorne leuchten neue Lampen auf, die dann, wie alle anderen, verlöschen, wenn das Auto 100 m entfernt ist. Aus der Flugzeugperspektive müßte das Fahrzeug wie ein erdgebundener Komet aussehen, der seinen glühenden Schweif im 100-Kilometer-Tempo über eine Landstraße schleppt!
DIE VERSUCHSSTRECKE

ist vorerst nur wenige hundert Meter lang (oben). Die Testfahrzeuge, die auf ihr fahren, sind mit entsprechenden Geräten ausgerüstet. Auf der rechten Straßenseite sind die Lampen zu sehen, die aufleuchten, sobald ein Fahrzeug an ihnen vor- Inn Fahrzeug selbst befindet sich eine Kontrollampe, die dann aufleuchtet, wenn ein anderes Auto vorausfährt oder entgegenkommt. Die Weiterentwicklung dieser elektronischen Straße wird dahingehen, daß eine Metallschiene in der Fahrbahn die Steuerung des Autos übernimmt. Bild unten zeigt eine derartige Versuchsstrecke, die vor kurzem in einem amerikanischen Fernsehfilm vorgeführt wurde. Die General Motors experimentieren auf einer ähnlichen Versuchsstrecken. Bild rechts zeigt einen Versuchswagen, bei dem links und rechts des Nummernschildes je eine Magnetspule befestigt ist, die für die automatische Steuerung des Wagens sorgt.
Ein zweiter 'Kometenschweif' erscheint jetzt vorne; er gehört zu einem Fahrzeug, das durch eine Bodenwelle verdeckt ist. Aber selbst wenn er es erkennen könnte, wäre dem Fahrer des Chevrolet damit nicht geholfen. Er kann ja durch die dunkle Scheibe nicht hindurchsehen. Vorläufig weiß er noch nicht einmal, daß ein anderes Fahrzeug vor ihm ist und eine elektrische Laufschrift am Straßenrand hinter sich herzieht. Jetzt aber holt der Chevrolet das letzte der Lichter vor ihm ein. Augenblicklich leuchtet ein rotes Warnsignal am Armaturenbrett auf; gleichzeitig beginnt es in einem der Instrumente vor dem Fahrer zu surren. Er weiß, ohne es zu sehen, daß ein anderes Auto dicht vor ihm ist. Er geht vom Gaspedal - das Surren dauert an, weil der Chevrolet immer noch zu schnell fährt. Er tritt auf die Bremse, und jetzt erst beruhigen sich die optischen und akustischen Signale. Der Fahrer weiß, daß jetzt keine Gefahr mehr besteht, den unsichtbaren Wagen vor ihm zu rammen. Er nickt dem Mitfahrer zu; dieser drückt wieder auf einen Hebel, der dunkle Vorhang vor der Windschutzscheibe wird hochgezogen. Der Fahrer wendet den Wagen und kehrt zur Kreuzung zurück, wo die Spitzen der Behörden ihn mit wohlgewählten Worten über den Siegeszug der Technik und die Verheißungen der Zukunft erwarten. Immer wieder aber kommen in ihren Ansprachen die Ausdrücke 'elektronische Landstraße' und 'erste Etappe' vor. Die elektronische Landstraße war einmal ein technischer Wunschtraum. Heute ist sie im Begriff, Wirklichkeit zu werden. Die Vorarbeiten begannen im Jahr 1953 im David-Sarnoff-Forschungsinstitut in Princeton. Im wesentlichen handelt es sich bei der elektronischen Landstraße um eine Fahrbahn, in die Empfangs- und Sendegeräte eingebaut sind (s. hobby 12/1953, S. 40ff.). Diese Geräte sollen den Kurs und die Fahrgeschwindigkeit des Autos auch ohne Mitwirkung des Fahrers bestimmen. Das geschieht durch Warn- und Steuervorrichtungen in der Straße und im Auto. Wenn alle vorgesehenen elektronischen Geräte eingebaut sind, wird angeblich das Goldene Zeitalter des Autoverkehrs beginnen: Denken und Handeln werden dem Fahrer von Maschinen abgenommen. Die nur wenige hundert Meter lange elektronische Versuchsstrecke bei Lincoln im Staat Nebraska setzt bereits einige dieser Ideen in die Tat um. Vor allem das Warnsystem ist schon recht gut ausgebaut. Es besteht im wesentlichen aus einer beliebig großen Anzahl von sieben Meter langen und zwei Meter weiten Drahtschlingen, die in die Straßendecke eingebettet sind. Mit jeder Drahtschlinge ist ein Empfänger verbunden, der auf die Wellenlänge eines im Auto angebrachten Senders abgestimmt ist. Sowie das Signal eines herannahenden Autos empfangen wird, wird ein Transistorschalter betätigt, der einen Stromkreis schließt, so daß eine Lampe am Straßenrand eingeschaltet wird. Die Leuchtdauer der Lampe kann willkürlich reguliert werden. Entweder wird von vornherein eine einmalige Dauer (z, B. sechs Sekunden) oder eine bestimmte Entfernung zum Auto eingestellt, oder Leuchtdauer und Abstand vorn Auto richten sich nach dessen Geschwindigkeit. Bei dem Experiment in Nebraska wurde ein Wagen verwendet, der noch keinen Sender besaß; der Stromkreis wurde nicht durch elektronische Steuersignale, sondern durch mechanisches Niederdrücken von Bodenschwellen geschlossen. Das Ergebnis war natürlich das gleiche, wie wenn die Impulse vom Sender kommen. Die Warnlichter hinter dem Wagen - der 'Kontenschweif' - zeigen jedem Fahrzeug den Abstand zum vorausfahrenden Wagen an. Daran ändert sich auch bei Nacht und Nebel nichts. Der Fahrer braucht den Wagen vor sich überhaupt nicht zu sehen, sondern nur die Leuchtspur der Warnlichter am Straßenrande. Auch wenn das Fahrzeug vor ihm jenseits einer Bodenerhebung oder hinter einer Kurve verschwunden ist, bleibt die Leuchtspur sichtbar. Die Lichter können dem Wagen auch vorauseilen und ein anderes Fahrzeug sozusagen von rückwärts warnen. Allein diese Warnlichter bieten einen ganz hervorragenden Schutz gegen Zusammenstöße. Sie werden aber noch durch eine ganze Reihe anderer Vorrichtungen ergänzt. Die Signale, die von den Empfängern der Drahtschleifen aufgefangen werden, können nämlich über weitere kleine Sender abgestrahlt und so von einer, nachfolgenden Auto empfangen werden. Das ist der Grund, weshalb der Fahrer des Chevrolets ein Surren hörte und auf dem Armaturenbrett ein rotes Licht aufleuchten sah, als er zu dicht an seinen 'Vorgänger' herankam. Diese Auto-zu-Auto-Warnung dürfte noch wirksamer sein als das Straße-Auto-Warnsystem.
DAS WARNSYSTEM DER VERSUCHSSTRECKE

bei Lincoln Ist bereits recht gut ausgebaut. Im wesentlichen besteht es aus einer Anzahl größerer Drahtschlingen, die in das Straßenpflaster eingelassen sind. Die Zeichnung oben zeigt, wie die einzelnen Lampen aufleuchten, wenn ein Fahrzeug an ihnen vorbeifährt. Die Dauer der Warnsignale läßt sich willkürlich regulieren.
Eine andere Möglichkeit dieses elektronischen Warnsystems veranschaulicht die untere Zeichnung: Auf einer Bergstrecke sind Warnlampen angebracht.
Die entgegenkommenden Autos lösen durch Niederdrücken von Bodenschwellen Impulse aus, so daß der Stromkreis geschlossen wird.
Wie war es nun dem Fahrer möglich, seinen Kurs beizubehalten, obwohl der dunkle Vorhang ihm die Sicht versperrte? In die Mitte der Fahrbahn ist eine Metallschiene eingelassen, durch die ein elektrischer Strom fließt. Ein Instrument auf dem Armaturenbrett zeigt dem Fahrer an, wie weit er nach rechts oder links von der Schiene abweicht. Er braucht sich demnach um die Fahrbahn überhaupt nicht zu kümmern, sondern muß nur darauf achten, daß der Zeiger des Instruments Immer in der Mitte ist. Der Fahrer praktiziert gewissermaßen Blindfliegen auf der Straße. Soweit leisten die elektronischen Geräte noch immer nur Hilfestellung. Das ist jedoch keineswegs der Sinn der elektronischen Landstraße: Das Endziel ist die vollautomatische Steuerung. Im Januar 1958 lief in Amerika ein Fernsehtrickfilm, bei dein ein vollelektronischer Wagen über eine vollelektronische Straße fuhr. Der Fahrer nahm die Hände vom Lenkrad, drehte sich um, unterhielt sich mit den Mädchen auf dem Rücksitz und schenkte der Straße keine weitere Beachtung. Er brauchte das auch nicht. Sein Auto wurde automatisch so gesteuert, daß es immer genau über der Metallschiene in der Straßendecke blieb. Außer Warngeräten waren auch Kontroll- und Steuergeräte eingebaut. Am Straßenrand waren in regelmäßigen Abständen kleine Sender aufgestellt; ihre Signale steuerten automatisch die Geschwindigkeit des Wagens. Tauchte vor dem Wagen auf der Straße ein Hindernis auf, so sorgte ein der 'proximity fuse' (Nahzünder) nachgebildetes elektronisches Gerät für eine Verminderung der Brennstoffzufuhr. Fuhr der Wagen auch dann noch zu schnell, so wurden, ohne jedes Zutun des Fahrers, die Bremsen betätigt, und notfalls konnte der Wagen sogar automatisch zum Stillstand gebracht werden. Wenn eine bloße Geschwindigkeitsverminderung nicht genügte, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, griff ein ferngesteuerter Lenkmechanismus ein, der erstens blitzschnell prüfte, ob die benachbarte Fahrbahn frei war, zweitens gegebenenfalls die Bindung des Wagens an die Leitschiene vorübergehend aufhob und drittens das Ausweichmanöver durchführte. Im Januar dieses Jahres konnte man ein skeptisches Lächeln nicht ganz unterdrücken. Doch schon im Februar luden die General-Motors-Werke eine Gruppe von Berichterstattern ein, an einer Versuchsfahrt mit einem 'denkenden' Auto teilzunehmen. Die Fahrt führte über eine 1,6 km lange Strecke, die mehrere Kurven enthielt. Vom Start bis zum Ziel brauchte der Fahrer das Lenkrad nicht zu berühren - die elektronische Landstraße gab die Anweisungen, der Wagen befolgte sie.

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DIE AUSRÜSTUNG IM AUTO

umfaßt nur zwei Geräte: Unterhalb des Rückspiegels ist ein Instrument angebracht, das eine Links- oder Rechtsabweichung von der Leitschiene in der Straße sofort anzeigt. Links über dem Tachometer befindet sich ein kleines Kästchen mit einem Summer und Kontrollampen. Die Windschutzscheibe vor dem Fahrer des Versuchswagens ist mit einem dunklen Vorhang verhängt.
Schon jetzt wesentliche Vorzüge

Eine elektronische Rechenmaschine unter dem Armaturenbrett, die auf die Spannungsunterschiede zweier Spulen an der vorderen Stoßstange ansprach, verarbeitet die Signale. Soll der Wagen genau über der Leitschiene fahren, so müssen die Impulse, die die Spulen aufnehmen, gleich stark sein; sind sie das nicht, dann stellt die Maschine das fest und reguliert den Kurs, bis der Unterschied ausgeglichen ist. Auch das ist erst ein Anfang. Man kann jetzt zwar ein Auto bauen, das 'von selbst' auf der Landstraße fährt; aber es fehlt noch das elektronische Gehirn, das dem Fahrer jede Entscheidung abnimmt. Das ist jedoch nach Ansicht der Konstrukteure vorläufig nicht nötig. Mit der jetzt bestehenden Anlage lädt sich bereits folgendes erreichen: Bei Straßenkreuzungen wird das Vorfahrtsrecht elektronisch geregelt; die Warnlichter zeigen alle Hindernisse auf der Fahrbahn an - selbst bei Nebel, in einer Kurve und jenseits einer Bodenerhebung; sie können auch anzeigen, ob sich auf der entgegengesetzten Fahrbahn ein Fahrzeug nähert (was von Bedeutung sein kann, wenn man um einen geparkten Wagen oder ein sonstiges Hindernis herumfahren will). Der Fahrer wird gewarnt, wenn er einem 'Vorgänger' zu nahe auf den Leib rückt; er wird gewarnt, wenn er zu schnell fährt. An Kreuzungen können die Ampeln automatisch dem Verkehr angepaßt werden. Der nächste Schritt bestünde darin, die Autos mit einfachen Empfangsgeräten auszurüsten. Es wurde in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, für den Anfang den Fahrern die Empfangsgeräte leihweise zu überlassen. Später sollten dann die Wagen serienmäßig mit Empfängern und Steuervorrichtungen ausgerüstet werden. Wann aber sollte man über den Bau von Versuchsstrecken hinausgehen und mit der Konstruktion richtiger elektronischer Landstraßen beginnen? „Heute", erklärt ein führender amerikanischer Verkehrssachverständiger. „Gerade heute sind wir im Begriff, ein über 60000 Kilometer umfassendes Netz allermodernster Autostraßen zu schaffen. Und gerade heute sollte man damit beginnen, wenigstens auf wichtigen Streckenabschnitten die notwendigen Installationen vorzunehmen, die man später doch einmal brauchen wird, für die man dann aber die Straße wieder aufreißen müßte." Der elektronischen Landstraße, dem vollautomatischen Autoverkehr steht nicht mehr viel im Wege - vorerst allerdings erst in Amerika!