Auszüge aus veröffentlichter Primärliteratur zu Gesellschaft, Wissenschaft und Technik. Diese Zitate sollen die Diskussion der Heftbesprechungen im Digedags-Forum unterstützen. Der Text wurde Printmedien entnommen, Flüchtigkeits- und Übertragungsfehler bitte ich unkommentiert zu entschuldigen. Hier geht es zur Hauptseite: www.mosafilm.de


Zitat aus: Günter Meyer, Urania Universum, Urania-Verlag Leipzig/Jena, Artikel "Fliegen mit ATOM-Kraft", Band 2, 1956, S. 214-220

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Fliegen mit ATOM-Kraft


Seit den Tagen, in denen zwei japanische Großstädte in Sekundenbruchteilen vernichtet und Hunderttausende von Einwohnern getötet oder zu Krüppeln gemacht wurden, hat die „Atomenergie" Besitz von den Hirnen der Menschen ergriffen. Schien die Kernenergie erst nur geschaffen zu sein, um Elend und Grauen zu verbreiten, so hat die Arbeit verantwortungsbewußter Wissenschaftler gezeigt, daß keine Energieform so geeignet ist, auch einer friedlichen Anwendung ungeahnte neue Wege zu erschließen.
Während es am Anfang äußerst schwierig war, die entfesselten Kräfte der Atomkerne zu bändigen, gelang es in den letzten Jahren, diese Kernenergie auch technisch verwendbar zu machen. Aber dieser Energieumwandlung haften noch Mängel an. Wenn man die Umwandlung in einem ungesteuerten Vorgang zur Auslösung bringt, dann kann man sie nur als eine Art Sprengstoff nutzen, denn die ungeheuren Energiemengen werden in einem winzigen Bruchteil einer Sekunde (0,0000001 s) frei. Beim gesteuerten, langsamen Vorgang der Kernspaltung unterliegt die gesamte Kernspaltungsanlage, der Reaktor und die Regeleinrichtungen, sehr hohen Temperaturen. Mit Rücksicht auf das Material muß die Temperatur im Reaktor weit unter der wirtschaftlichsten Spaltungstemperatur gehalten werden. Außerdem hat man noch nicht die geeigneten Energieumwandlungsmaschinen zur Verfügung. Man muß bisher die gebräuchlichen Aggregate, wie Dampfkessel, Turbine und Kondensator verwenden, deren Wirkungsgrad sehr niedrig liegt. Erst wenn es möglich ist, die frei werdende Spaltungsenergie direkt den Kraftmaschinen zuzuleiten (wie etwa die Energie des strömenden Wassers der Wasserturbine), wird man von einer Wirtschaftlichkeit auf diesem Gebiete sprechen können.
Betrachten wir nun unter Berücksichtigung dieser Tatsachen die gegenwärtig vorhandenen Möglichkeiten der Anwendung der Atomenergie oder besser der Kernenergie in der Luftfahrt und die Aussichten, die sich hier schon heute abzuzeichnen beginnen. Zuerst erhebt sich die Frage nach der Art der Triebwerke, die für die Ausnutzung der Kernenergie in der Luftfahrt (die Weltraumfahrt soll nicht in unsere Betrachtungen einbezogen werden) brauchbar sind. Bei der Kernenergie handelt es sich immer um die Zusammenballung sehr großer Energiemengen, die auf kleinstem Raume ausgelöst werden. Deshalb ist es günstig, wenn die Triebwerke möglichst unkompliziert gebaut sind.
Von der bei der Kernspaltung (Kettenreaktion) frei werdenden Energie können mehr als 80 Prozent in Form der kinetischen Energie der auseinanderfliegenden Kernteile technisch ausgenutzt werden. Man muß nur die hohe Geschwindigkeit der Teilchen entweder durch Abbremsen in Wärme verwandeln oder aber alle Teilchen in eine Richtung lenken und den dabei auftretenden Rückstoß ausnutzen. Beide Möglichkeiten bergen aber gegenwärtig noch ziemlich große Schwierigkeiten in sich.
Da ist zuerst einmal der Reaktor, in dem der Kernspaltungsprozeß vor sich geht. Zum Abbremsen der aus den Atomkernen herausgeschleuderten Teilchen (Neutronen) benutzte man bisher Graphit, der sich direkt im Reaktor zwischen der zerstrahlenden Masse befinden muß. Weiter ist für die aus dem Reaktor austretenden Teilchen ein Graphitmantel zur Reflexion der Neutronen erforderlich, da sonst die Kettenreaktion bald zum Erliegen käme. Anstelle des Graphits benutzt man auch Schweres Wasser. Der erste größere Versuch dieser Art in Deutschland während des zweiten Weltkrieges wurde mit einem Reaktor von mehreren Tonnen Gewicht durchgeführt, und bei einem ähnlichen Versuch in Amerika zur gleichen Zeit benutzte man einen Reaktor von 1400 Tonnen. Aber deswegen braucht uns nicht bange zu werden; denn auch der erste Motor in einem Luftfahrzeug, dem Luftschiff des Franzosen Henry Giffard (1852), wog 250 kg und leistete nur 3 PS. Die Technik ist bei derartigen Problemen bis jetzt noch immer Sieger geblieben, wenn auch oft nicht kompromißlos. Von Versuchen zur direkten Umsetzung der kinetischen Energie der herausgeschleuderten Kernteilchen in Bewegungsenergie eines Fahrzeuges ist bis jetzt noch wenig bekanntgeworden. Hier bereitet die Beherrschung der äußerst hohen Temperaturen die größten Schwierigkeiten. So muß diese Form der Anwendung für uns vorläufig außer Betracht bleiben.
Namhafte Wissenschaftler, vornehmlich in der Sowjetunion, haben sich schon seit längerer Zeit mit der Entwicklung geeigneter Motoren beschäftigt, die für den Verbrauch von „Kerntreibstoff" eingerichtet sind. Dabei steht von vornherein fest, daß der stündliche Treibstoffverbrauch nur einige Gramm ausmacht. Ausgangspunkt bildeten bei den Entwürfen die bereits erprobten Triebwerke.
Bild 1 a: Turbinen-Propeller-Triebwerk
Bild 1a
Turbinen-Propeller-Triebwerk


Bild 1 b: Turbinen-Düsen-Triebwerk
Bild 1b
Turbinen-Düsen-Triebwerk



Bild 1 c: Staustrahltriebwerk
Bild 1c
Staustrahltriebwerk
Am einfachsten mutet die Verwendung eines Turbinen-Propeller-Triebwerkes (Turboprop) an (Bild 1 a). Dabei handelt es sich um eine Turbine mit geschlossenem Kreislauf. Das Arbeitsmittel kann ein Gas oder auch eine Flüssigkeit sein.
Die Anordnung des Reaktors dürfte hierbei günstig an zentraler Stelle im Flugzeug erfolgen, um gleichzeitig für mehrere Triebwerke die Energiequelle zu bilden. Im Reaktor wird das zirkulierende Arbeitsmittel erhitzt. Das Gas oder der Dampf wird dann nach Verlassen des Reaktors in die Turbine geleitet, die mit der. Luftschraube gekoppelt ist. Nach dem Durchströmen der Turbine gelangt das Arbeitsmittel in einen Kondensator, in dem das Druckgefälle durch Abkühlung des in der Turbine bereits entspannten Arbeitsmittels noch erhöht wird. Die gesamte Anlage ist sehr umfangreich und wird durch die Verwendung eines Kondensators in gewisser Hinsicht auch ungünstig beeinflußt; denn zum Erreichen eines möglichst niedrigen Enddruckes darf die Durchströmgeschwindigkeit im Kondensator nicht sehr hoch sein. Das macht aber wiederum den Einbau sehr großer Kondensatoreinheiten erforderlich. Der Vorteil der Anlage liegt darin, daß die Betriebstemperatur verhältnismäßig niedrig ist, vor allem in den bewegten Teilen der Turbine. Diese wird demzufolge thermisch nicht sehr stark belastet.
Will man ein Turbinen-Düsen-Triebwerk (Bild 1 b) verwenden, um die Kernenergie nutzbar zu machen, so stößt man bereits auf größere Schwierigkeiten. Anstelle der Brennkammern wird der Kernreaktor eingebaut. Bei den erforderlichen hohen Gasgeschwindigkeiten im Triebwerk und den gegebenen Unterbringungsmöglichkeiten direkt vor der Turbine muß der Reaktor einerseits kleine Abmessungen besitzen, andererseits mit sehr hohen Temperaturen arbeiten, um die durchströmende Luft ausreichend erhitzen zu können.
Das Arbeitsmittel, die stark erhitzte Luft, durchfließt anschließend die Turbine, die den Kompressor antreibt. Daraufhin tritt die Luft durch die Rückstoßdüse ins Freie; sie führt aber stark radioaktive Teilchen mit sich. Deshalb müssen der Leitapparat, der Turbinenläufer und die Rückstoßdüse besonders vor der sogenannten radioaktiven Korrosion geschützt werden. Außerdem ist es nicht unwesentlich, zu bedenken, wie sich die Einwirkung des radioaktiven Gasstrahles auf die Umgebung äußert, besonders beim Start und bei der Landung eines mit solchen Triebwerken ausgerüsteten Flugzeuges.
Ähnliche Verhältnisse liegen beim sogenannten Staustrahltriebwerk vor (Bild 1 c). Die Luft stellt auch hier das Arbeitsmittel dar. Sie tritt vorn in das Triebwerk ein. Im Vorderteil, dem Diffusor, staut sie sich infolge der Formgebung, was einer Druckerhöhung und gleichzeitigen Erwärmung entspricht. Beim Durchströmen des Reaktors muß die Luft fast schlagartig auf eine sehr hohe Temperatur gebracht werden. Dadurch wird sie beschleunigt, verläßt durch eine im Hinterteil angeordnete Düse das Triebwerk und erzeugt dabei den erforderlichen Schub. Auch hier verlassen radioaktive Stoffe das Triebwerk, das außerdem nur bei Geschwindigkeiten von Mach 2 bis 4 wirtschaftlich arbeitet.

[Anmerkung: Als Machzahl bezeichnet man das Verhältnis der Fluggeschwindigkeit zur Schallgeschwindigkeit.]

Bild 2: Atomenergie-Staustrahltriebwerk
Bild 2
Atomenergie-Staustrahltriebwerk

1
Staukegel
2
Lufteintritt
3
Rückführungs-Kühlluft
4
Kadmiumstab
5
Brennstoffeintritt (Uranstaub)
6
Brennraum
7
Umlaufpumpe
8
Regelgerät zum Treibstoffzusatz
9
Kühlluftleitung
10
Drehfeldinstallation
11
Graphitmantel
12
Brennstoffrückführung
13
Sammelleitung der Kühlluft
14
Brennstoffabfangvorrichtung
15
Reaktionsdüse
16
Elt-Ausrüstung
17
äußere Verkleidung
Als beste Lösung dürfte augenblicklich die zu betrachten sein, bei der man bereits auf einen speziellen Reaktor verzichtet. Dem Triebwerk liegt das Prinzip des Staustrahlantriebes zugrunde (Bild 2). Im Diffusor kommt es zu der schon erwähnten Drucksteigerung. Hier setzt man nun der Luftmasse Uranstaub zu, der als Energieträger bei Erreichen der kritischen Masse die Auslösung der Kernreaktion selbsttätig zustande bringt. Die kritische Masse von einigen Kilogramm Uranstaub ist bei laufendem Triebwerk immer innerhalb des Reaktionsraumes vorhanden, wo der Staub eine Hitze von einigen tausend Grad erzeugt. Der Staub wandert mit der Luft durch das Triebwerk und wird am Ende mit Hilfe einer besonderen Anlage wieder abgezogen und zum Diffusor zurückgeleitet, um von dort erneut durch das Triebwerk zu laufen. Im gesamten Triebwerk befindet sich aber jederzeit eine überkritische Menge Kernbrennstoff. Dies ist nicht ungefährlich. Um eine unerwünschte Kettenreaktion zu vermeiden, sind sämtliche Leitungen, die dem Transport des Brennstoffes dienen, mit dem die Neutronen absorbierenden Kadmium umgeben. Auch in den Diffusor ragt noch ein Kadmiumstäbchen, so daß eine Kernreaktion erst außerhalb des Wirkungsbereiches dieses Stabes, eben im Brennraum des Triebwerkes, möglich wird. Dieser Brennraum ist wiederum von einer Graphitschicht umgeben, damit auch wirklich alle Spaltprodukte innerhalb des Triebwerkes verbleiben. Zur Aussonderung des glühenden Staubes befindet sich der gesamte Triebwerkkörper in einem elektrischen Drehfeld. Dadurch wird dem Kernbrennstoff außer der Geschwindigkeit in Richtung Reaktionsdüse noch eine Drehgeschwindigkeit mitgeteilt. Infolge der auftretenden Fliehkräfte nähern sich alle Teilchen immer mehr den Wänden des Brennraumes und können dort abgefangen werden, ohne daß es einer mechanischen Drallvorrichtung bedarf, die ja durch den Verschleiß beim Auftreffen der Staubteilchen sehr schnell unbrauchbar würde.
Im Wirkungsbereich des Kadmiums der Ableitungen endet dann automatisch die Kernreaktion. Die zugesetzte Kühlluft senkt die Temperatur des Staubes auf ein für die Fortleitung erträgliches Maß. Ein Regelgerät ersetzt daraufhin automatisch die durch den Verbrauch (bei einem Umlauf der gesamten Brennstoffmenge wird weniger als 1 pro mille verbraucht) entstandene Fehlmenge.
Eine ganz besondere Bedeutung muß man bei solchen Atomkraft-Triebwerken dem Schutz vor der radioaktiven Strahlung beimessen. Den biologischen Schutz, das heißt Schutz alles Lebenden vor dieser Strahlung, kennt man schon seit den ersten Versuchen mit den Atommeilern. Um diese Versuchsanlagen baute man Strahlungsschutzhüllen aus 30 cm dicken Bleischichten und 7,5 m starken Betonwänden.
Mit einem derartigen Aufwand kann man wohl stationäre Anlagen sichern, aber für ein Flugzeugtriebwerk scheidet diese Möglichkeit aus, auch wenn seine Leistung sehr groß sein sollte.
Bild 3: Atomflugzeug mit Triebwerk im Rumpfende
Bild 3
Atomflugzeug mit Triebwerk im Rumpfende
Hier mußten von den Wissenschaftlern neue Wege beschritten werden, und als im Sommer 1955 die Presse meldete, daß es sowjetischen Forschern gelungen sei, eine spezifisch sehr leichte Legierung zu schaffen, die als Strahlungsschutz dienen kann und nach der in anderen Staaten, noch immer fieberhaft gesucht wird, da war wieder eine Etappe für die Atomluftfahrt gewonnen. Trotzdem aber verzichtet man auch in Zukunft nicht darauf, das Triebwerk im Rumpfende des Flugzeuges unterzubringen, um den Strahlungsschutz noch wirksamer zu gestalten (Bild 3).
Bild 4: Energieverbrauchskurven,  Vergl. Atomenergie zu chemischen Antrieb
Bild 4
Energieverbrauchskurven
Bisher haben wir uns mit dem Atomkraft-Triebwerk beschäftigt, ohne das Flugzeug selbst einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Das ist jedoch von Wichtigkeit, wenn man die Möglichkeiten des Einsatzes solcher Flugzeuge abschätzen will. Wir können dabei von den bereits bekannten Voraussetzungen ausgehen, daß der Treibstoffverbrauch völlig unbedeutend ist und das Gewicht der Triebwerke und des Strahlungsschutzes sehr hoch liegt und daß ein Atomkraft-Triebwerk um so wirtschaftlicher arbeitet, je höher die im Brennraum oder Reaktor erzeugte Temperatur sein darf. Flugzeuge, die eine niedrige Geschwindigkeit entwickeln sollen, benötigen dazu Turbinentriebwerke. Der Reaktor für solche Antriebsmittel muß mit verhältnismäßig niedrigen Temperaturen arbeiten und wird entsprechend schwer. Je langsamer also ein Flugzeug mit Atomkraft-Antrieb fliegen soll, um so relativ schwerer wird es sein. Das zeigt auch das Bild 4. Die strichpunktierten Linien entsprechen der Anwendung von Atomenergie, während die ausgezogenen Linien für chemische Energie (Benzin, Rohöl) gelten. Bei Flugzeugen mit den bisher üblichen Motoren ist es umgekehrt. Je höher die Geschwindigkeit sein soll, um so größer wird auch das Fluggewicht. Ähnliches stellen wir in bezug auf die Reichweite solcher Flugzeuge fest. Bei einer Vergrößerung des Aktionsradius steigt das Fluggewicht stark an, und bei Geschwindigkeiten über 1000 km/h zeigt es sich, daß die Reichweite bereits sehr begrenzt wird.
Die Reichweite von Flugzeugen, die Triebwerke für Kernbrennstoff besitzen, ist dagegen kaum begrenzt. Der geringfügige Gewichtsanstieg mit erhöhter Reichweite ist mehr auf die größere elektronische und funktechnische Einrichtung sowie auf zusätzliche Anlagen für die Bedürfnisse der Besatzung und der Fluggäste zurückzuführen.
Allgemein aber sind diese Flugzeuge recht schwer, und das macht sie bei etlichen hundert Tonnen Fluggewicht auch abhängig von ganz besonders ausgestatteten Flugplätzen. Weiterhin kann ein wirtschaftlicher Flug bei etwa 3000 km/h nur in sehr großen Höhen durchgeführt werden. Das schließt wiederum Zwischenlandungen auf einem Weitstreckenflug von vornherein aus. Nach wie vor werden also die bisher üblichen Triebwerke für den Passagierflugdienst den Bereich der Entfernungen bis 10000 km und der Geschwindigkeiten bis 750 km/h beherrschen. Für den Frachtverkehr kann man auch noch bis 18000 km bei allerdings nur 500 km/h mit einem wirtschaftlichen Einsatz rechnen. Alles, was an Reichweite oder Geschwindigkeit darüber liegt, wird dem Atomkraft-Triebwerk vorbehalten sein.