Auszüge aus veröffentlichter Primärliteratur zu Gesellschaft, Wissenschaft und Technik. Diese Zitate sollen die Diskussion der Heftbesprechungen im Digedags-Forum unterstützen. Der Text wurde Printmedien entnommen, Flüchtigkeits- und Übertragungsfehler bitte ich unkommentiert zu entschuldigen. Hier geht es zur Hauptseite: www.mosafilm.de


Zitat aus: Ernst Behrendt, Zeitschrift "hobby" Das Magazin der Technik, EHAPA-Verlag GmbH Stuttgart, Artikel "So leben wir 1975", Heft 11/1955, S. 39-45

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So leben wir 1975

von Ernst Behrendt

Klick auf die Abbildung => ZOOM Für viele Menschen sind Zukunftsträume nüchternste Gegenwart. Am Morgen gehen sie in ihr Büro oder ihre Werkstatt; am Abend kehren sie in ihre Wohnung zurück; die Stunden zwischen Morgen und Abend verbringen sie auf Plattformen im Weltraum, in atomgetriebenen Autos, hinter dem Steuer phantastischer Maschinen, die buchstäblich Bäume ausreißen, oder auf rollendem Pflaster viele Meter unter der Erde. Sie träumen nicht etwa von diesen Dingen; sie entwerfen sie, konstruieren sie, arbeiten an ihrer Fertigstellung und hoffen, daß der Tag nicht mehr fern sein wird, an dem die Utopie zur Wirklichkeit für jedermann wird.
Es sind jene Ingenieure der großen technischen Konzerne, jene Physiker in wissenschaftlichen Instituten, Professoren, Städtebauer, Regierungsbeamte - es ist das Heer der Unbekannten, die alle, alle an der Zukunft arbeiten. Von ihrer Tätigkeit hört die Öffentlichkeit wenig, bis eines Tages die Presse meldet: „Künstlicher Trabant vor der Fertigstellung." Dann weiß man, daß in Wahrheit nur diejenigen wirklichkeitsfremd sind, die glauben, daß die Wirklichkeit sich niemals ändern kann.
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DIE STADT

des Jahres 1975 wird aus noch größeren Hochhäusern als heute bestehen. Das pfannenartige Gebilde (links) Ist der Oberteil einer unterirdischen Großgarage. Daneben gibt es auch noch Hochgaragen in unserer heutigen Form (rechts).
Derartige Überraschungen hat es gerade in der letzten Jahren so oft gegeben, daß Zukunftsträume heute geradezu ins Produktionsprogramm der Industrien aufgenommen werden. Ja, kein Großunternehmer schämt sich mehr, unter seinen Planern Männer zu beschäftigen, die scheinbar Phantasten sind. Selbst eine Organisation wie die 'American Chamber of Commerce', die auf das Ansehen ihrer Mitgliederverbände und auf das Prestige des ehrbaren amerikanischen Kaufmanns den allergrößten Wert legt, erkennt heute die Berechtigung und Notwendigkeit von Zukunftsträumen an. Diese nordamerikanische Handelskammer-Organisation ist sogar so weit gegangen, kürzlich bei ihrer Jahrestagung den Zukunftstraum in den Mittelpunkt der Debatten zu stellen. Viele amerikanische Großunternehmen wurden eingeladen, wenigstens andeutungsweise die Zukunftsprojekte in ihren Laboratorien zu schildern und, wenn möglich, Illustrationen beizusteuern. Bei der Auswahl war maßgebend, welche Illustrationen wohl am ehesten dem technischen Leben des Jahres 1975 gerecht würden - die Zukunft auf mehr als zwei Jahrzehnte vorherzusagen, wagte man nicht. Und so wurde im Rahmen der Handelskammertagung eine 'Vorschau auf das Jahr 1975' veranstaltet.
Die Vorschau beschränkte sich aber nicht auf technische Dinge; es sollte vielmehr gezeigt werden, wie sich das Leben des Menschen - vornehmlich in Amerika - überhaupt im Jahre 1975 abspielt, und dazu gehörte auch die Art, wie er wohnt, wie er sich kleidet, was für Feldfrüchte er anbaut, wie er sie zubereitet, und dann, immer wieder, welche Fortbewegungsmittel er benutzt.
DAS AUTO

des Jahres 1975 wird wahr. scheinlich Turbinenantrieb besitzen und der Benzinmotor wird dann verdrängt sein.
Darüber, wie die Verkehrsmittel der Zukunft angetrieben werden, scheinen sich die Konstrukteure der Gegenwart einig zu sein. Der Benzin-Kolben-Motor ist, soweit man erkennen kann, fast verschwunden. Sicher gibt es noch irgendwo in einer verschlafenen Provinz ein paar Dieselmotoren, aber in der großen Welt hat sich der Turbinenantrieb längst durchgesetzt. Wahrscheinlich ist aber auch sein Reich darin von kurzer Dauer. Da die Atomkraft bereits seit geraumer Zeit zur Elektrizitätserzeugung gebändigt ist, wird man sie wohl auch zum Antrieb von Autos benutzen können. Und infolgedessen findet man unter der Abbildungen der Modelle des Jahres 1975 auch mehrere, die durch Atomkraft betrieben werden. Irgendwer soll für die Vorschau auch die Zeichnung einer Atomtreibstofftankstelle eingereicht haben - eine kleine Werkstatt, in der man, etwa alle 50 000 Kilometer, die 'heiße Zelle' des Reaktors auswechselt. Diese Zeichnung wurde jedoch auf Anraten der technischen Leitung zurückgezogen, da mit Recht geltend gemacht wurde, wenn man schon Atombrennstoff habe, könne man die Anlage auch so dimensionieren, daß sie so lange betriebsfähig ist, wie das Auto selbst hält.
Zumindest über die äußere Form des Atomautos werden uns genaue Einzelheiten mitgeteilt. Bei einem besonders schnittigen Modell 1975 handelt es sich um einen eleganten Zweisitzer mit Heck-Atomantrieb; die Sitze befinden sich dicht hinter den Vorderrädern, und eine Kühlerhaube gibt es nicht mehr, so daß der Fahrer nahezu unbeschränkte Sicht hat. Die Sitze sind von einer Kuppel aus Plexiglas umhüllt und gleichen fast der Kanzel eines Flugzeugs. Eine Klimaanlage ist selbstverständlich vorhanden. Die Antenne auf der Kuppel dient offensichtlich dem Rundfunkempfang; angeblich läßt sie sich aber auch leicht als Empfangsantenne für drahtlos übertragene elektrische Energie verwenden, eine sehr gewagte Prognose.
Um das Fahrzeug herum läuft eine Stoßstange (es ist interessant, daß wenigstens eine amerikanische Autofabrik schon jetzt - oder wieder einmal - mit der Idee einer den ganzen Wagen umgebenden Stoßstange spielt), und das sehr lange, sehr schlanke, wenigstens zum Teil aerodynamisch geformte Heck wird von einer mächtigen, halbdurchsichtigen Flosse überragt, die als Stabilisierungsfläche dienen soll. Man findet also gewisse Stilelemente der heutigen Modelle. Das Wesentliche bei einem Atomauto ist jedoch nicht das Aussehen. Das Wesentliche ist der Antrieb. Alle Probleme, die einer Verwendung von Atomkraft für kleinere Fahrzeuge heute noch im Wege stehen, hofft man, bis 1975 zu überwinden. Erstens wird es möglich sein, eine kleine, kompakte Atomanlage zu bauen, die nicht, wie man annehmen möchte, im Wagen, sondern unter dem Wagen installiert werden kann. Zweitens wird es hoffentlich möglich sein, die Atomanlage so abzuschirmen, daß Menschen nicht gefährdet werden, dabei aber den Schutzmantel verhältnismäßig leicht zu gestalten. Die Umwandlung von Kernenergie in elektrische Energie findet möglicherweise direkt statt, und nicht mehr über den energiewirtschaftlich kostspieligen und umständlichen Umweg Wärme-Wasser-Dampfturbinen-Strom. Vielmehr wird die aus Kernenergie erzeugte elektrische Energie direkt dazu benutzt, die verschiedenen, an den einzelnen Achsen angebrachten elektrischen Motoren zu treiben.










DIE VERKEHRSMITTEL

in 20 Jahren gleichen nur noch wenig unseren heutigen: 1. Das Verkehrsflugzeug hat voraussichtlich noch Tragflächen. Für Langstreckenflüge werden die Maschinen von Gasturbinen angetrieben. 2. Der Lastkraftwagen dürfte. Turbinenantrieb haben. Dabei befindet sich das Führerhaus sehr weit vorne, so daß der Fahrer eine gute Übersicht auf der Straße hat. 3. Die Antriebsenergie des Atommotors wird mit Hilfe von Elektromotoren übertragen werden, die ihrerseits die Räder des Fahrzeuges antreiben. 4. Unseren heutigen Eisenbahnzügen gleicht ungefähr noch der Fernzug des Jahres 1975. Natürlich besitzt auch er in der Phantasie der Konstrukteure bereits Atomantrieb. 5. Die ersten Weltraumflüge mit Menschen an Bord haben bis zu diesem Jahr voraussichtlich schon begonnen. Als 'Stützpunkt' wurden dann bis dahin schon Außenstationen errichtet. 6. Vor den Städten sind Atomkraftwerke in Tätigkeit, die die Stadt mit elektrischer Energie versorgen werden.
Von womöglich noch größerer Bedeutung als für den Personenwagen ist der Atomantrieb für den Lastwagen. Indessen finden wir, daß der Lastwagen des Jahres 1975 uns eigentlich nicht besonders phantastisch vorkommt. Beim Personenwagen scheint manchmal die Lösung der Formfrage künstlich oder gesucht; beim Lastwagen von 1975 sieht sie recht natürlich aus; tatsächlich ist schon jetzt ein Lastwagenmodell auf dem Markt, das in großen Zügen dem Zukunftsmodell ähnelt. Allerdings findet man 1975 wieder die um den ganzen Wagen samt Anhänger herumlaufende Stoßstange. Der Atomantrieb liegt, getrennt durch den Boden des Fahrzeugs, unter den Füßen des Fahrers. Man fragt sich, welche Geschwindigkeit diese Wagen haben werden -- eine Frage, die man sich auch bei einem anderen, den heutigen Fahrzeugen viel näherstehenden Modell stellt: dem Turbinenauto. Es sieht ganz so aus, als ob es jeden Augenblick das Fließband in Detroit verlassen könnte. Dieses Turbinenauto wirkt im ersten Augenblick bestechend. Die Kritiker haben jedoch zu bemängeln, daß die Insassen der Sonne und den Blicken Neugieriger nicht minder ausgesetzt sind als ein Goldfisch in seinem Glas, und daß zum Beispiel die Scheinwerfer, hinter massiven Plexiglasblöcken angebracht, völlig wertlos würden, wenn die Plexiglasmasse zerkratzt wird, was bekanntlich recht leicht geschehen kann. Nehmen wir jedoch an, daß es möglich sein wird, dieser kleinen technischen Schwierigkeiten beim Turbinenauto Herr zu werden, und wenden wir uns der Frage zu, mit welchem Tempo man über die Landstraßen von 1975 fahren wird. Leider wird uns eine präzise Antwort nicht erteilt. Indessen dürfen wir Rückschlüsse ziehen. Wir können berechnen, wieviel Kraft eine Atomanlage hergibt. Wir können uns ferner überlegen, daß die Stoßstangen um das ganze Auto herum vielleicht auf eine stärkere Kollisionsgefahr deuten (oder aber auch nur einen stärkeren Kollisionsschutz darstellen -- und das wäre eine der wenigen Sicherheitsmaßnahmen, die beim Auto der Zukunft eingeführt sind: das Paar im Atom-Zweisitzer ist geradezu sträflich exponiert); und wir können uns endlich mit dem Gedanken trösten, daß diese ganze Sorge dem Fahrer von 1975 abgenommen sein wird. Es gibt Zukunftsmodelle, bei denen gar kein Steuerrad mehr vorhanden ist oder wo es nur in Notfällen benutzt zu werden braucht. Der Fahrer kümmert sich gar nicht um die Geschwindigkeit, er kann sich seinen Mitfahrern zuwenden und sich mit ihnen ganz ungeniert unterhalten. Das Auto soll dennoch ziemlich schnell fahren. Steuerung und Geschwindigkeitsregelung sind automatisch. Überall am Straßenrande stehen in regelmäßigen Abständen Sendeanlagen, deren Signale die Steuervorrichtung regulieren und das Tempo bestimmen. Die Signale sorgen dafür, daß der Wagen einen stets gleichbleibenden Abstand vom Wegrand und, was womöglich noch wichtiger ist, von den anderen Verkehrsteilnehmern hält; sie passen das Tempo dem Straßenbelag und überhaupt den Verhältnissen an. Mit anderen Worten: Der Wagen verhält sich automatisch so, wie ihn ein guter Fahrer mit Rücksicht auf die Straßen- und Verkehrsverhältnisse fahren würde. Zwei andere Verkehrsmittel sehen bei allen Unterschieden im einzelnen - im großen und ganzen ihren Vorläufern von 1955 doch noch recht ähnlich: das Flugzeug und die Eisenbahn. Auf Flügel hat man auch beim Flugzeug der Zukunft anscheinend noch nicht verzichten können, sei es bei einer großen Verkehrsmaschine für 200 Passagiere, mit Atomantrieb und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1000 km/h (oder mehr), oder bei der Kombination von Hubschrauber und üblichem Flugzeugtyp, dem Convertiplane. Beide sind in der Vorschau auf 1975 vertreten. Bemerkenswert ist die aerodynamische Formgebung der Flugzeuge. Fraglich ist aber, ob sich die Passagiere nicht beengt fühlen werden, denn die Flugzeuge haben, vom Cockpit abgesehen, keine Fenster mehr. Auch beim Eisenbahnzug der Zukunft gilt die Formel: mehr Stromlinie plus Atomantrieb gleich 1975 - mit dem Unterschied, daß hier die Gegenwart schon ganz dicht an die Zukunft herangerückt ist. Der Gliederzug der Deutschen Bundesbahn und der spanische Talgo-Zug zum Beispiel und einige der neueren amerikanischen Bahnmodelle dürften denen von 1975 in keiner Weise unterlegen sein. Allerdings müssen wir uns den Betrieb etwas anders vorstellen. Der Eisenbahnverkehr wird durch ein kompliziertes, unfehlbares Relais- und Fernsteuerungssystem gelenkt und kontrolliert; elektronische Steuervorrichtungen, unterstützt durch Fernsehanlagen, leiten Lokomotiven und ganze Züge durch ein vielstockiges Labyrinth unterirdischer Rangierbahnhöfe.

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DER SCHIENENLEGER

von 1975 reißt selbsttätig Schienen heraus und verlegt neue in das Gleisbett in einem einzigen Arbeitsgang.



DIE FENSTER

des Jahres 1975 schließen sich mit Hilfe eines Servomotors automatisch, sobald die ersten Regentropfen fallen
Eine wirkliche Überraschung erleben wir, wenn wir uns ansehen, wie Eisenbahnschienen verlegt werden. Dieser Schienenleger, Modell 75, eine Art monströser Heuschrecke aus Stahl, reißt gleichzeitig alte Gleisanlagen heraus und verlegt neue. 1975 wird man über die Möglichkeiten verfügen, die Erde ganz zu verlassen, und das 'Foto' aus der Zukunft zeigt uns ein kleines Raumschiff, das indessen nicht für den interplanetarischen Verkehr gedacht ist, sondern nur als feste Station jenseits der Stratosphäre. Die Menschen in diesem 'Schiff, leben in ringförmigen Stahlröhren, die sich um ihre Mittelachse drehen. Man ahnt mehr, als daß man es sehen könnte, daß es sich hier nicht um Endpunkte menschlicher Entdeckungsreisen handelt, sondern um Ausgangspunkte: von hier wird man Reisen innerhalb des Sonnensystems - weiter vorläufig noch nicht - antreten können. Vor der Stadt der Zukunft liegt das Atomkraftwerk, das die Stadt mit Kraftstrom und Licht versorgt - ein sachlich wirkendes Gebäude, dessen seitlich angebrachte Kuppel den Reaktor enthält; auf der anderen Seite liegt der Transformator. Nach der anderen Richtung kommt man, . in einigen Kilometern Entfernung, zum Fernverkehrszentrum, wo Bahnen, Autobusse, Autos und Flugzeuge, möglicherweise sogar Raumschiffe, unter einem einzigen Riesendach parken. Geht man weiter hinaus, kommt man in die Vororte, in Privathäuser, wo der Bedienungsknopf und die Kleinmaschine noch mehr als heute die körperliche Arbeit überflüssig machen. Die Menschen von 1975 werden schneller reisen können als wir: sie werden rollendes Straßenpflaster haben und ein Leben führen, in dem elektrische und elektronische Geräte sie vor tausend Gefahren schützen. Maschinen werden ihnen mehr und mehr Arbeit abnehmen. Sie werden mehr und mehr Zeit haben. Und wenn sie klug sind, werden sie, wie die Vorschau auf 1975 ebenfalls zeigt, versuchen, inmitten höchstentwickelter Technik doch ein Leben zu führen, das sie der Natur nahebringt.