Auszüge aus veröffentlichter Primärliteratur zu Gesellschaft, Wissenschaft und Technik. Diese Zitate sollen die Diskussion der Heftbesprechungen im Digedags-Forum unterstützen. Der Text wurde Printmedien entnommen, Flüchtigkeits- und Übertragungsfehler bitte ich unkommentiert zu entschuldigen. Hier geht es zur Hauptseite: www.mosafilm.de


Zitat aus: Gerhard Walter, Zeitschrift "hobby", Das Magazin der Technik, EHAPA-Verlag GmbH Stuttgart, Artikel "Superzüge rasen durch die Taiga", Heft 06/1957, S. 19-23

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Superzüge rasen durch die Taiga

Klick & Zoom: Superzüge rasen durch die Taiga

Klick & Zoom: Streckenführung Leningrad-Moskau-Kiew
Rußland plant 'Schiffe auf Schienen' mit Atomantrieb - Ein Waggon befördert 1600 Tonnen bei 200 km/h. Wird es in einigen Jahrzehnten so weit sein, daß Eisenbahngiganten, Superzüge von heute noch unvorstellbaren Ausmaßen, 'Schiffe auf Schienen', von Atomlokomotiven gezogen durch die russischen Steppen rasen? Viele Techniker in der Sowjetunion halten es für möglich, ja sie haben schon die Pläne dafür ausgearbeitet. Denn die Lösung des Verkehrsproblems, insbesondere des Transportes gewaltiger Gütermengen durch die endlosen Weiten des russischen, vor allem aber des sibirischen Raumes, ist in der Sowjetunion zu einer der vordringlichsten Aufgaben geworden. Das Eisenbahnnetz der Sowjetunion besitzt derzeit eine Streckenlänge von etwa 160000 Kilometern (USA 380480). Da die Eisenbahn in der Sowjetunion nach wie vor das wichtigste Verkehrsmittel darstellt, wird laufend an ihrem Ausbau gearbeitet. Während man sich jedoch in den meisten anderen Ländern der Erde nur mit der Steigerung der Fahrgeschwindigkeit (durch Festigung des Unterbaues und den Einsatz stärkerer Lokomotiven), der Erhöhung des Fahrkomforts der Reisenden und der Verbesserung der Be- und Entladeanlagen beschäftigt, sollen in der Sowjetunion neuartige Bahnen gebaut werden, die allen Verkehrsanforderungen auch in absehbarer Zukunft gewachsen wären. Diese Pläne besitzen - so phantastisch sie sich für die Verkehrsfachleute auch anhören mögen - in der Sowjetunion zweifellos eine reale Basis, ja sie werden dort zur Notwendigkeit, wenn man bedenkt, daß dieses Land nur ein verhältnismäßig schwaches Netz gut ausgebauter Straßen besitzt und auch die Motorisierung trotz aller Bemühungen noch lange nicht den Stand der westlichen Welt erreicht haben wird.

Klick & Zoom: Streckenführung Leningrad-Moskau-Kiew

Klick & Zoom: Der Unterbau

Waggon im Aufriß, sowie eine der projektierten Lokomotiven.


Unterbau des Bahnkörpers für den normalen Eisenbahnzug und daneben den Bahnkörper für die Superbahn.
Die geplante Super-Eisenbahn - sie verdient durchaus diese Bezeichnung - soll eine Spurbreite von 4500 mm besitzen. Das ist etwa die dreifache Breite der heute üblichen Normalspur, die 1435 mm beträgt und bei 74 Prozent aller Eisenbahnlinien der Welt verwendet wird. (Dieses Maß ist wahrscheinlich nur auf den Umstand zurückzuführen, daß zur Zeit der ersten Eisenbahnen die Achsenlänge der Postkutschen gerade jene Abmessung besaß (siehe auch 'Von Leser zu Leser', S. 9). Alle übrigen bedeutenden Eisenbahnen benutzen eine größere Spurbreite. In der Sowjetunion, in Finnland, der Türkei und Panama beträgt sie jeweils 1524 mm. In Irland, Brasilien und Teilen von Australien findet man die 1600-mm-Spur, während die bisher größte Spurbreite von 1676 mm in Spanien, Portugal, Indien, Ceylon, Argentinien und Chile in Gebrauch steht. Schmalspurbahnen gibt es bis zu einer Spurbreite von 600 mm herunter. Die übergroße Spurbreite des russischen Projektes würde naturgemäß den Bau von Waggons mit einem Fassungsvermögen erfordern, wie es bis heute unvorstellbar ist. Großgüterwagen - von einzelnen Spezialwagen abgesehen - besitzen heutzutage auf den Normalspurbahnen ein durchschnittliches Ladegewicht von 50 bis 60 Tonnen. Auf den langen, ebenen Strecken der USA und der Sowjetunion hat man Güterwagen mit einer Ladefähigkeit von 100 Tonnen eingesetzt. Dies aber wiederum geht auf Kosten der Zuglänge, da eine Güterzuglokomotive eben nur imstande ist, ein bestimmtes Gewicht fortzubewegen. Ein Wagen der geplanten russischen Super-Breitspurbahn würde etwa das 27fache eines bisher üblichen Güterwagens fassen, also statt 60 Tonnen rund 1600 Tonnen Nutzlast aufnehmen.

Ringverbindung durch Sibirien
Klick & Zoom: Grundriß Personenwagen (oben und unten)
LUXURIÖS sollen die geplanten russischen Superzüge ausgestattet sein. Die Zeichnung rechts veranschaulicht die Innenausstattung der Personenwagen. Durch die breite Spur kann man vom Typ des bisher üblichen Eisenbahn-waggons mit seinen engen Sitzen ganz abgehen und ihnen eine Einrichtung geben, wie sie bisher nur auf Schiffen möglich ist. Einen weiteren Vorteil für die Geräumigkeit bietet der Waggon durch seine zwei 'Stockwerke'. Eine Treppe führt in das obere 'Stockwerk' des Waggons. Unter der Treppe soll der Schaltraum für Klimaanlage und Beleuchtung untergebracht werden. Über die Schwierigkeiten, die der Verwirklichung einer solchen Super-Eisenbahn im Wege stehen, scheint man sich in der Sowjetunion durchaus im klaren zu sein. Es gibt heute keine Eisenbahntrasse, die eine für diese Spurweite nötige Breite aufweist. Bei ihrem Bau müßten also völlig neue Dämme angelegt und Brücken von entsprechender Tragfähigkeit errichtet werden. Die Stabilität des Unterbaues und der Schienen müßte erheblich größer als bei den heutigen Trassen sein. Das alles aber dürfte beim Bau dieser Super-Eisenbahn durch die endlosen Weiten des russischen Raumes, durch die Ebenen der Ukraine und die Steppen, keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bieten. Unebenheiten des Geländes sollen, den Plänen zufolge, durch großzügige Abgrabungen beziehungsweise Aufschüttungen ausgeglichen werden. Die Kosten des Trassenbaues dürften im übrigen kaum höher sein als die für eine allen Witterungseinflüssen gewachsene Autobahn. Die ersten Teilstrecken dieser Super-Eisenbahn sollen, soweit bisher verlautet, die Städte Moskau-Leningrad-Kiew miteinander verbinden, während sich der weitere Ausbau vor allem auf eine Ringverbindung der neuen Industriezentren in Sibirien erstrecken würde.
Das Treibstoffproblem dieser Riesenzüge soll die Atomkraft lösen. Atomlokomotiven, deren Bau man in allen technisch fortgeschrittenen Ländern ins Auge faßt, konnten bis heute nicht realisiert werden, da die Ausmaße und das Gewicht des Atomreaktors, besonders aber der unumgängliche Strahlungsschutz, zuviel Platz beanspruchen und die Maschinen für den Unterbau gegenwärtiger Eisenbahnen zu schwer machen würden. Die Atomlokomotive in den Ausmaßen der russischen Super-Breitspurbahn kennt diese Platzsorgen zweifellos nicht. Diese Giganten des Schienenstranges sollen ja die dreifache Breite einer Normalspur-Lokomotive und eine mindestens ebenso große Höhe und, da die Trassen äußerst kurvenarm gehalten werden sollen, auch eine nahezu beliebige und lediglich durch das Gewicht diktierte Länge besitzen. Ihr Führerstand soll sich in einer Kuppel befinden, die das Oberteil der Lokomotive überragt und von der aus der Lokführer ungehindert die vor ihm liegende Strecke übersehen kann.

200 km/h ohne 'Flattern'
Klick & Zoom: Grundriß Personenwagen (oben und unten)

Klick & Zoom: Grundriß Personenwagen (oben und unten)
VORBILD für den projektierten Superzug bildet in gewissem Sinn der Luxus-Expreß, der zwischen Moskau und Tiflis verkehrt. Oben ein Waggon für Filmvorführungen, rechts ein Blick In den Gang eines Schlafwagens. Die erreichbare Geschwindigkeit, bei der es kein 'Flattern' und Schwingen der Züge mehr gibt, wird mit 200 km/h angenommen. Eine höhere Geschwindigkeit würde zu einer zu starken Abnutzung der Schienen führen. Die Züge sollen etwa zehn Wagen umfassen. Die von einem einzigen Zug beförderte Nutzlastmenge entspräche also immerhin derjenigen von zehn normalen derzeitigen Güterzügen. Da der Blockabstand der nacheinander laufenden Züge nicht größer zu sein brauchte als heute, die Geschwindigkeit aber beträchtlich höher liegt, errechnete man eine fünfzehn- bis zwanzigfache Leistungssteigerung im Transport.
Die Super-Eisenbahnen, die in erster Linie zwar für den Güterverkehr gedacht sind, sollen aber auch der Personenbeförderung dienen. Hier wäre es bei der Geräumigkeit der Wagen möglich, vom Typ des bisher üblichen Eisenbahnwaggons mit seinen engen Sitzen ganz abzugehen und den Wagen eine Einrichtung zu geben, wie sie heute nur auf Schiffen möglich ist: also zahlreiche, in einem mehrstöckigen Aufbau untergebrachte Einzelabteile, geräumige Aufenthaltsräume, Kinos, Bäder usw. Frischluft soll nur durch eine Klimaanlage zugeführt werden, um die Verstaubung auf einem Mindestmaß zu halten und stets - im Sommer und Winter - eine angenehme Temperatur zu schaffen.
Außer der Sowjetunion mit ihren endlosen Ebenen dürfte es allerdings kaum ein Land geben - auch die Strecken in den USA und Kanada sind zu kurz und führen durch häufig wechselndes Gelände - das die Voraussetzungen besitzt, die den Bau und Betrieb einer solchen Super-Eisenbahn rentabel erscheinen lassen.