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Im August 1959 wird dem Mosaik-Leser die Atomenergie als unerschöpfliche Energiequelle der Zukunft propagiert. Das Hegen-Kollektiv befindet sich diesbezüglich in allerbester Gesellschaft, national wie international. Man könnte meinen, die Wissenschaftler wollten der Menschheit eine Wiedergutmachung für eine bereits erfolgreich erprobte Anwendung, die Atombombe, liefern. ...
Zitat aus: Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Die Welt:
Bei Klick: die moderne Atomino-Erscheinung ;-)
Kraftquelle ATOM

.... und was bleibt, wenn ein Traum ausgeträumt ist
Spalte das Atom mit der Maustaste!
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Backcover Mosaik 33  (Klick und Zoom)
Backcover Mosaik 33

Von manchen Entdeckungen der Menschheit sollte man sich wünschen, sie hätten nie stattgefunden. Trifft das auch für die Atomenergie zu? Denken wir nur mal an Tod, Leid und Vernichtung, die von amerikanischen Atombomben ausgingen! Oder an Angst und Schrecken, die das atomare Wettrüsten und deren Folgen bis in das 21. Jahrhundert begleitete und deren Ende nicht abzusehen sind! Hat das Ende des Kalten Krieges die atomare Bedrohung verringert, und wie sind die neuen Gefahren, die von den alten Waffen ausgehen, einzuschätzen? Und kann man den Energiegewinn der Atomkraftwerke gegen ihren Beitrag zu einer "strahlenden Zukunft" der Erde aufrechnen? Wie wird heute die friedliche Nutzung der Atomenergie in der Biologie und Medizin (als radioaktive Isotope) und in der Technik (als Strahlungsquelle und Indikator) gesehen?

Im Mosaik des Jahrgangs 1959 steht das Atom als Energiequelle für Antriebe von Flugzeugen, Schiffen und Eisenbahnen im Vordergrund. Was ist von dieser Vision geblieben?
Ein Atomflugzeug wurde nie gebaut. In der Sowjetunion der 50er Jahre beschäftigte man sich mit dem Gedanken, was für Amerika Grund genug war, bis 1961 über 1 Milliarde Dollar Steuergelder in das Projetzt 'A-Plane' zu pumpen, obgleich allen Experten klar war, daß es nie zu einem Flug kommen würde. Was es die Volkswirtschaft der Sowjetunion gekostet haben mag, wird wohl ein ewiges Geheimnis bleiben - doch im Gegensatz zu den USA-Rüstungskonzernen, hat wohl niemand daran eine goldene Nase verdient.
Scheiterte die Atomlok an den gewaltigen Kosten, die von der UdSSR für die Errichtung der Infrastruktur hätten aufgebracht werden müssen? Es war augenscheinlich dann doch rentabler, die gewaltigen Erdöl-Ressourcen zu erschließen und so das Flugzeug für den Personen- und Güterverkehr zu einem (auch für den Normalbüger) erschwingliches Transportmittel werden zu lassen. Auch Krauss-Maffei projektierte in den 50er Jahren eine Lok mit nuklearem Antrieb. Äusserlich hätte sie wie eine V 200 ausgesehen. Der Reaktor wäre in der Lokmitte untergebracht worden und, vermutlich um Gewicht zu sparen, mit Helium betrieben worden. Glücklicherweise blieb es bei den Plänen, das Projekt wurde eingestellt.
Schiffe mit Atomantrieb sind uns allerdings nicht erspart geblieben, aber dieser Traum war ja 1959 schon Wirklichkeit geworden. Von 13 Atomeisbrechern befinden sich noch drei dieser Giganten im Dienst. Heute führen nicht mehr die Wissenschaftler, sondern die Reisebüros das Kommando auf der Brücke. So kostet eine 14-tägige Expedition zum Nordpol zwischen 12000 und 20000 Euro, also mal gerade den lächerlichen Preis, den eine Mosaik-Sammlung bei eBay zu erreichen wünscht.

Was, so frage ich mal, bleibt und nun nach 40-50 Jahren Atom-U-Boot oder Atom-Eisbrecher? Ganz so einfach wie im beliebten Lexikon für Kinder ("Von Anton bis Zylinder", 1997, Kinderbuchverlag Berlin) funktioniert das nämlich nicht. Da konnte man ganz locker Begriffe wie „Atomeisbrecher“ oder „Atom-U-Boot“ verschwinden lassen. An deren Stelle wird dafür etwa „Atommüll“ erläutert. Na ja, ähnliches passierte schließlich auch mit dem Eintrag „Arbeit“. Davon gibt es doch immerhin auch noch ein bißchen, und hier hieß es 1966 u. a.: „Wenn nicht gearbeitet würde, müßten wir hungern, nackt gehen, frieren. Deshalb wird in unserer Republik die Arbeit geachtet ...“ So putzig das auch klingt, andererseits fehlt doch bezeichnenderweise im neuen Lexikon gleich das ganze Stichwort. Aber immerhin können die Kinder statt über „Arbeit“ jetzt etwas über „Arbeitslosigkeit“ nachlesen.

Nordostpassage, die Heimat der Atomeisbrecher (Klick und Zoom)
Nordostpassage
Heimathafen der russischen Atom-Flotte ist Murmansk auf der Halbinsel Kola. Er ist auch Ausgangspunkt der Nordostpassage in W-O-Richtung, wie die Schifffahrtsroute von der Nordsee entlang der arktischen Küste Norwegens und Russlands durch Kara-, Laptew-, Ostsibirische, Tschuktschen- und Beringsee zum Pazifischen Ozean bezeichnet wird. Ziemlich genau auf der Hälfte der Nordostpassage liegt das Delta des Flusses Lena, einer der großen Ströme Sibiriens. Das Delta ist mit 32.000 km² das Größte im Norden Asiens. Mit über 300 Pflanzen- und 40 Fischarten ist es ausgesprochen artenreich. Das Delta und seine vorgelagerten Inseln (zusammen 61.300 km²) bilden das größte Naturschutzgebiet der Russischen Föderation. Jegliche wirtschaftliche Nutzung (außer traditionelle Bewirtschaftung) ist verboten.

Man muß wirklich kein Fan von Greenpeace sein (die Organisation gründete sich 1971 anläßlich der Proteste gegen USA-Atomtests in Alaska), um bei nachfolgenden Meldungen und Kommentaren nachdenklich zu werden.

16.8.2000, Frankfurter Rundschau:
Die strahlenden Müllhalden von Murmansk

In den Häfen der Kola-Halbinsel, wo der Atomschrott lagert, droht "Tschernobyl in Zeitlupe"
von Hannes Gamillscheg

Vor einer grauen, verfallenen Wohnsiedlung am Hafen von Murmansk liegen verrostete Schiffswracks im Wasser und verrotten. Abgetakelte Kriegsschiffe der Nordflotte der ehemaligen Sowjetunion, die demolierten Überreste atomkraftbetriebener Eisbrecher und ausgemusterte Atom-U-Boote haben hier ihren letzten Ankerplatz gefunden. Längst hätten sie verschrottet und entsorgt werden sollen, doch dafür gibt es kein Geld. So dümpeln sie am Kai vor sich hin, bis sie eines Tages so porös sind, dass sie von selbst auf den Meeresgrund sinken.
Die eisfreien Häfen auf der Kola-Halbinsel sind strahlende Müllhalden. Insgesamt wurden rund 100 mit Atomkraft betriebene U-Boote ausrangiert, die nun völlig ungeschützt vor sich hin rosten. Zumindest 40 von ihnen haben nach wie vor ihre Reaktoren und gebrauchten Brennstäbe an Bord. Von einem "Tschernobyl in Zeitlupe" spricht die norwegische Umweltorganisation "Bellona". In zehn bis fünfzehn Jahren drohe Kola so verseucht zu sein, wie man es bisher nur nach dem Tschernobyl-GAU erlebt habe, sagt Bellona-Experte Thomas Nilsen.
Als Museumsschiff liegt heute der riesige Atomeisbrecher "Lenin" im Murmansker Hafen. Für seinen Betrieb hat der Staat kein Geld mehr. 1967 war es an Bord des ersten mit Atomkraft betriebenen Eisbrechers zu einer Reaktorhavarie gekommen. Da beschloss sein Kommandant Boris Sokolow kurzerhand, den überhitzten Reaktor im Meer zu versenken. Nicht weit von der "Lenin" liegt die "Lepse". Ihr Lagerraum ist so voll gepackt mit hoch aktiven gebrauchten Brennstäben, dass die Lastarbeiter die letzten Pakete mit schweren Hämmern in die noch verbliebenen Luken schlagen mussten.
Auf der "Lepse" und ihrem Schwesterschiff "Lotta" soll der Atommüll bleiben, bis es eines Tages auf Kola ein Zwischenlager geben wird. Pläne dafür gibt es, und Norwegen, wo man als direkter Nachbar an einer Sanierung äußerst interessiert ist, hat wie die EU Hilfe bei der Finanzierung angeboten. Die Lagerstätte soll bei der Eisbrecherbasis Atomflot eingerichtet werden. Doch die Lokalbevölkerung wehrt sich noch gegen den Bau in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Halbmillionenstadt.
Murmansk, die Stadt, die auf dem Reißbrett entstand, weil Lenin einen eisfreien Hafen verlangte, bezieht ihren Strom von einer 160 Kilometer entfernten Atomkraftanlage mit vier Reaktoren. Sie liegt bei Poljarnoje Sori und wird von der Internationalen Atomenergieagentur unter die gefährlichsten der Welt gereiht. Die Druckwasserreaktoren haben keinen Sicherheitsmantel, der bei einem Unfall die Ausbreitung von Radioaktivität stoppen könnte. "Die Anlage ist heute in einem solchen Zustand, dass Vögel ungehindert in und aus der Reaktorhalle fliegen können", stellte Bellona fest.
Zu den technischen Mängeln kommen die "sozialen Bedingungen", meint Bellona-Experte Nilsen. Die Löhne bleiben oft Monate lang aus, und es ist für Techniker "wesentlich profitabler, auf der Straße Wodka zu verkaufen". "Zwischenfälle" gibt es ständig, zum Beispiel im Mai, als Unbekannte den Strahlungsalarm entwendeten und im vierten Reaktor 24 Stunden lang die Kontrolle über mögliche Radioaktivität verloren gegangen war.
Seit dem Tschernobyl-Unglück fürchten die Bewohner von Murmansk, dass auch das Kola-AKW von einem GAU betroffen werden könnte. Die Antwort der Stadtverwaltung war die Aufstellung einer digitalen Uhr auf der Hauptstraße, die immer noch Lenin-Boulevard heißt. Dort ist nicht nur Uhrzeit und Temperatur abzulesen, sondern auch der aktuelle Wert der radioaktiven Strahlung. Russen und Touristen können sehen, dass die Verseuchung bisher kein nennenswertes Maß erreicht hat. Entwarnung bedeutet dies nicht.

18.11.2002, Süddeutsche Zeitung:
Erkundungen bei Murmansk
In der heißesten Atomzone der Erde: "Schon morgen früh kann es zu spät sein - Die Zeitbombe ist am Kai vertäut."
von Christian Wernicke

Murmansk – Eigentlich ist Anatolij Gawrilow ein stolzer Kapitän zur See. „Mit Vergnügen“, das gibt er zu, würde er gleich morgen wieder hinausfahren und sich auf dem Polarmeer den Wind um seine knollige Nase wehen lassen. Aber das geht nicht, „wegen der Familie“. Sagt er. Den wahren Grund bringt Gawrilow nicht über die Lippen: Sein Schiff, die bald 70 Jahre alte Lepse, wird die Bucht von Murmansk niemals mehr verlassen.
Hoffentlich nicht. Im Bauch des stählernen Frachters nämlich stapelt sich tonnenweise Teufelszeug: 639 zum Teil lädierte Brennelemente, die einst zum Ruhme der Sowjetunion den Eisbrecher Lenin atomar befeuerten, strahlen dort seit 1988 vor sich hin. Der rostige Kahn dient als atomares Zwischenlager. Russische Experten errechneten, dass „fünf Minuten Aufenthalt im Lagerraum genügten“, um Anatolij Gawrilow eine radioaktive Jahresdosis zu verpassen. Angst, nein Angst hatte der 56-jährige Offizier der Handelsmarine dennoch angeblich nie; es sei ja „alles unter Kontrolle“. Seit fünf Jahren beäugt der stoische Mann in seiner schwarzen Uniform die Lepse, vor kurzem beförderte man ihn zum Kommandanten der nuklearen Zeitbombe. Und wie es aussieht, wird er das noch lange bleiben – ein Kapitän, vertäut am Kai.
Denn niemand weiß, wohin mit dem Müll. 30 Millionen Dollar würde es kosten, die schwimmende Altlast halbwegs sicher abzuwracken. Die finden sich nirgends im weiten Russland. Am liebsten hätte Moskau eh alles vertuscht. Als der ehemalige U-Boot-Ingenieur Alexander Nikitin Mitte der Neunzigerjahre für die norwegische Umweltorganisation Bellona in einem Report aufdeckte, welche atomaren Gefahren am Ufer der Barentssee lauern, wurde der Offizier wegen Verrats von Staatsgeheimnissen jahrelang mit Knast und Hausarrest drangsaliert. Bis heute, sagt Nikitin, spielten Russlands Behörden die Probleme herunter. Derweil korrodierten die Brennstäbe auf der Lepse, rücke die Katastrophe einer radioaktiven Verseuchung näher: "Schon morgen früh kann es zu spät sein."

113 ausrangierte U-Boote
Und die Lepse erscheint – dieses Bild drängt sich in Russlands äußerstem Nordwesten geradezu auf – nur als Spitze eines nuklearen Eisbergs. Kein anderer Landstrich der Welt beherbergt so viel strahlenden Müll, so viel „unentsorgten“ Kernbrennstoff wie die Kola-Halbinsel – und obendrein ein zutiefst veraltetes, hochgradig aktives Atomkraftwerk. Murmansk, die größte Stadt im Bannkreis der Arktis, ist der atomare Hotspot des Planeten: 113 ausrangierte U-Boote der ex-sowjetischen Nordflotte dümpeln hier im Brackwasser, ihre 231 Atomreaktoren harren der Verschrottung. Drei Autostunden südlich ragen vier Kernkraftblöcke in den Himmel, die, stünden sie in einem EU- Land, eher heute als morgen vom Netz gehen müssten. Nahe der Grenze zu Finnland und Norwegen ist wie in einem Lehrstück zu erkunden, mit welch schlampigem Zynismus die Nachfahren der Sowjetbürokratie ihre Heimat verrotten lassen.
Allein, in Murmansk bringt das offenbar niemanden um den Schlaf. Arkadij Rubin etwa, der Chef des regionalen Gesundheitsausschusses, winkt leutselig ab: „Kein Problem.“ Höhere Krebsraten? Fehlanzeige! Und für die statistische Tatsache, dass auf Kola ein Drittel mehr Atemwegserkrankungen registriert werden als allgemein im russischen Reich, weiß der Beamte gleich mehrere Erklärungen: „Das machen das Klima, die Feuchtigkeit, die Dunkelheit der Polarnacht.“ Eine Krankenschwester versichert, sie suche im Herbst unter dem goldenen Laub von Birken und Ebereschen gern Pilze. „Das Leben ist gefährlich, und es endet mit dem Tod“, lächelt sie. „Lepse? – nie gehört.
Stimmungsbilder aus Murmansk, jener kurz vor der Oktober-Revolution gegründeten Industriemetropole, deren 380 000 Einwohner bis heute stolz sind auf den Nimbus ihrer sowjetischen Heldenstadt. Unten am Hafen mag eine große Schautafel allzeit neben Temperatur und Windgeschwindigkeit die (bislang niedrige) radioaktive Strahlung signalisieren – wer schaut schon hin? Man hat andere Sorgen: den Job, die marode Heizung im Plattenbau. Oder die verwüsteten Wälder landeinwärts bei Montschegorsk, wo Rauchschwaden einer gigantischen Nickelfabrik den Regen verätzten.
Über dem Portal des Murmansker Gouverneurspalastes blättert die Farbe vom roten Leninorden, und drinnen erklärt Wladimir Gnojewskij, der stellvertretende Bürgermeister, was sein Amt alles für die Natur tut: Bäume werden gepflanzt, Forellen in Teichen ausgesetzt, und alljährlich, am 26. April, ist Umwelttag. Dann gedenken die Schüler der Opfer der Havarie von Tschernobyl. Die Gefahr, die vor der Haustür schlummert, blendet Gnojewskij aus: „Das ist Sache der Experten.“ Weil die Lepse kurz hinter der Stadtgrenze ankert, wisse er „nicht, wo genau dieses Schiff liegt“.
Da kennt sich Alexander Sinajew besser aus. Freundlich geleitet der Generaldirektor von Atomflot seine Besucher durch die Sicherheitsschleuse, „made in El Paso, USA“. Stahlgatter und Detektoren sollen verhindern, dass auch nur ein Gramm Uran vom verriegelten Firmengelände verschwindet – seit dem 11. September 2001 sei man wachsamer denn je. Die moderne Kontrollanlage wirkt wie ein Fremdkörper zwischen den alten Betonhallen. Überall bröckelt grauer Putz, frisst sich Rost in Metalldächer, Möwen kreisen über der Brache.
Ganz hinten, am letzten Kai, hat Atomflot die Lepse ans Ufer gefesselt. Daneben liegt die Wolodarskij, in deren Rumpf Russlands Ministerium für Atomenergie (Minatom) mehr als 200 Container radioaktiven Müll verstauen ließ. „Das kann da noch 50 Jahre sicher lagern“, glaubt ein Mitarbeiter von Atomflot. Deren 500 Angestellte leben davon, dass sie Russlands zivile Nordmeerflotte, die atomar betriebenen Eisbrecher und Großfrachter der Murmansk Shipping Company, mit nuklearem Treibstoff versorgen. 25000 Dollar zahlen Touristen aus Japan und Europa für einen zweiwöchigen Ausflug an den Nordpol.
Direktor Sinajew ahnt beim Rundgang sehr wohl, welch miserablen Eindruck etwa der Atomflot-Schuppen macht, in dem flüssiger Strahlenmüll entsorgt wird. Und er räumt Fehler ein. Zum Beispiel, wenn er auf jene Ruine deutet, die einst als Lagerhalle für ausgelaugte Kernbrennstäbe gedacht war. Vor 20 Jahren habe er dafür gesorgt, dass „diese Fehlkonstruktion“ nicht in Betrieb ginge: Damals hätten ihm Offiziere zugeflüstert, was 80 Kilometer entfernt, auf dem Marinestützpunkt in der Andrejewa-Bucht, auf einem Gebäude gleichen Typs vorgefallen war. Das Abkühlbecken leckte, radioaktives Wasser versickerte im Boden. "Da habe ich ans Ministerium in Moskau geschrieben und die Bauarbeiten gestoppt."
Noch heute sind die Militärbasen, von denen einst sowjetische U-Boote in alle Weltmeere aufbrachen, strikte Sperrbezirke. Auch EU-Beratern, die mit vielen Euros zur Sanierung der radioaktiv belasteten Anlagen winken, verweigert das Verteidigungsministerium jeden Zutritt. Erst Alexander Nikitin und die Bellona-Stiftung deckten die Zustände in diesem nuklearen Absurdistan auf.

In Eis, Schnee und Regen
Inzwischen erzählt davon auch ein vertrauliches Dokument der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Beispiel Andrejewa- Bucht: „Annähernd 22000 Brennelemente“ lagern dort, Eis, Schnee und Regen teilweise offen ausgesetzt. Daneben liegen „4500 Kubikmeter fester Atommüll“ sowie das berüchtigte Gebäude Nummer 5 voll verseuchtem Schlamm, für dessen Beseitigung eine Lösung erst noch erfunden werden muss. Oder die Saida-Bucht: Dort schwimmen als stählerne Ballons etwa 40 Reaktoren im Meer, die die Marine aus Schrott-U-Booten herausgeschnitten hat – laut EBRD-Analyse drohen sie "mit der Zeit zu versinken."
In einem Faltblatt der Murmansker Regionalverwaltung findet sich sogar ein Hinweis, was die Säuberung der Kola-Halbinsel kosten könnte: 1,5 Milliarden Dollar. Das alles ist in Moskau kein Geheimnis, auch nicht bei der Atomkontroll-Behörde Gosatomnadsor (GAN). Ein hoher Beamter räumt dort im Gespräch sogar ein, er habe die Horrorberichte im Internet gelesen, „allerdings in meiner Freizeit“. Rein dienstlich nämlich geht die GAN-Wächter das strahlende Erbe der Roten Marine nichts an. Ein Dekret von Präsident Putin entzog den Experten im Frühjahr jedes Recht, auf den Militärbasen für Ordnung zu sorgen. Seither kontrolliert das Verteidigungsministerium sich selbst: „Die lassen uns da nicht rein,“ winkt der GAN-Experte ab.
Die Atomaufsicht zählt im Ränkespiel russischer Behörden zu den chronischen Verlierern. So war es voriges Jahr, als die nukleare Lobby dem Parlament die Idee einflüsterte, den Import verbrauchter Kernbrennstäbe aus dem Westen zu erlauben. Das Duma-Gesetz verheißt Russland zwar Devisen, aber sonst nichts Gutes: „Dafür ist Russland weder technisch noch administrativ gerüstet“, sagt Alexander Tschokin, der stellvertretende GAN-Direktor. Er weiß, die USA und europäische Energiekonzerne signalisierten bereits Interesse. Also warnt er. Die Wiederaufbereitungsanlage im sibirischen Majak verdaue kaum, was von heimischen Kernkraftwerken auf sie zurolle. Zudem gilt der lange Bahntransport auf alten Gleisen bis hinter den Ural unter Experten als „nicht unriskant“ - und als potentiell ungeschützt gegenüber Überfällen von Banden, die „Beute für eine schmutzige Bombe“ machen wollten.
Selbst bei der Energieplanung bleibt die Kontrollbehörde außen vor. Wie sonst ist es zu erklären, dass man in der GAN-Zentrale „noch nie gehört hat, dass Russland bis 2020 mehr als doppelt so viel Atomstrom produzieren will? Von 52,3 statt bisher 21,2 Gigawatt schwärmen Beamte bei Minatom, dem zuständigen Ministerium. Diese Rechnung geht nur auf, wenn die 30 alten Meiler weit später als bisher genehmigt eingemottet werden. Allein elf Exemplare vom Typ Tschernobyl laufen bis heute.
Bei Poljarnyje Sori, 200 Kilometer südlich von Murmansk, spalten zwei Oldtimer vom Typ des abgewrackten DDR-Reaktors Greifswald Uran. Wladimir Bokow, der Chefingenieur dieses KKW Kola, räumt ein, die beiden ältesten der vier Druckwasser-Reaktoren gehörten „eigentlich bis 2004“ ausgemustert. Dann läuft die Genehmigung ab. Aber damit will sich Bokow nicht abfinden. Der 49-jährige Schnauzbartträger schwelgt in einem „optimistischen Szenario“, per Computer an die Wand projektiert, das Kola 1 und 2 noch bis 2024 am Netz sieht. „Wir arbeiten hier sicher und mit Profit.“ Da lachen Bokow und Kollegen. Nur Oleg Lapschew, der örtliche GAN-Aufseher, verzieht keine Miene. Er wäre „froh, wenn sich das pessimistische Szenario verwirklichen ließe“. Also Schluss 2004.

Leutseliger Kraftmensch
Nach Informationen der EU-Kommission geriet hier in Poljarnyje Sori am 2. Februar 1993 der älteste Meiler stundenlang außer Kontrolle. Ein Wintersturm hatte die Stromleitung gekappt, die Kühlung fiel aus, der Notstrom- Generator versagte. Der Reaktor drohte zu schmelzen. „Das ist eine Lüge“, schimpft Bokow. Damals prophezeite eine Studie der Internationalen Atomenergie- Behörde (IAEA) auf Kola einen Unfall innerhalb von 180 Jahren (der Weststandard liegt bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 100000 Jahren). Aber für die Leute in Poljarnyje Sori ist das Schnee von gestern. 170 Millionen Dollar habe die Betreibergesellschaft seit 1989 in die Sicherheit investiert, das mache ihr Kraftwerk inzwischen „so solide wie im Westen“.
Wenn es etwas gibt, was Wladimir Bokow aufregt, dann ist es „das Gerede von der westlichen Sicherheitskultur.“ Darüber gerät dieser sonst so leutselige Kraftmensch in Rage: „Das bedeutet doch nur, dass man uns Berater schickt. Wirklich getan hat sich nichts.“ Den Vorwurf, in Russlands KKWs habe sich seit Tschernobyl zu wenig geändert, wendet er gegen das organisierte Europa: Von zwölf Hilfsprojekten des EU-Programms Tacis , so erzählt Bokow, sei seit 1993 erst ein einziges umgesetzt worden. Der Rest der EU- Sicherheitshilfe verhedderte sich in Zankerei zwischen Moskau und Brüssel, verfing sich im Netzwerk der Eurokratie.
Auch das noch – neben todbringendem U-Boot-Schrott und brüchigen Kraftwerken nun auch noch eine im Kern inaktive Westbürokratie? Bis heute gescheitert ist etwa die 1994 versprochene Montage von Messgeräten, die im Ernstfall ein Leck im radioaktiven Primärkreislauf vermelden. Der Einbau von Feuerschutz oder eines Systems zur Behandlung flüssigen Atommülls – eine solche Nachrüstung halten Ost- wie Westexperten in Kola zwar für „absolut dringlich “. Aber seit fünf Jahren sendet Brüssel stets neue Formulare statt moderner Technik.
Auf Nachfrage räumt die EU-Kommission „besondere Probleme beim Mittelabfluss “ ein. Ein Referatsleiter zu Brüssel deutet an, in Poljarnyje Sori habe man bei Ausschreibungen mauscheln wollen. Russland sei „eben anders, leider“. Immerhin, bei den übrigen Kernkraftwerken klappt es besser, insgesamt hat die EU von 1991 bis 2001 über 800 Millionen Euro nuklearen Beistand zugesagt.
Brüssel bietet auch an, bei der Entsorgung der Lepse und der Sanierung der polaren U-Boot-Friedhöfe finanziell beizuspringen. Am Kai von Murmansk herrscht Ruhe, der Lotse an Bord des Schleppers Silatch bedient müde das Funkgerät. „Njet ugrosy!“, meldet die Zentrale: „Keine Gefahr.“ ...

26.2.2003, Die Welt:
Zeitbombe Murmansk
Das Gebiet um Murmansk ist die wohl größte Atommüllhalde der Welt: Radioaktiver Abfall, ins Meer gekippt. Verrottende Boote mit Reaktoren an Bord. Eineinhalb Milliarden Dollar soll die Sanierung kosten
von Dirk Sager

Von der Lebensqualität in Murmansk kündet eine unscheinbare Tafel im Zentrum der Stadt. Die Zahlen auf der Leuchttafel flackern unsicher, was wohl der sowjetischen Konstruktionsweise geschuldet ist. Aber die Werte sind beruhigend: Eine Temperatur von 20 Grad minus, damit kann der Winter nördlich des Polarkreises keinen schrecken. Der Luftdruck lässt ein anrückendes Tief erwarten – doch der entscheidende Wert steht an unterster Stelle der Tafel. Die Angabe über die radioaktive Strahlung: 4 Mikroröntgen – kein Grund zur Sorge.
Die vorbeiströmenden Menschen achten nicht auf die Werte an der Tafel. Und fragt man sie, dann versichern sie lächelnd, dass sie den Zahlen nicht vertrauen Die Region sei gefährdet, fügen sie hinzu, das wüssten sie schon: Die Nordmeerflotte mit den Atom-U-Booten und dem radioaktiven Abfall hat keinen guten Ruf – gerade bei denen, die in ihrer Nachbarschaft leben. Aber bisher, sagen die Menschen, sei es doch wenigstens an Land noch gut gegangen. Die Katastrophen mit den Atom-U-Booten hätten sich stets auf dem Meer ereignet – bis auf das eine Mal, als ein Amok laufender Matrose neun Kameraden erschoss und sich im Boot verbarrikadierte.
Juri Jewdokimow ist der Gouverneur des gesamten Bezirkes an der Barentsee, und er sieht die Gefahrenlage weniger gelassen. Er weiß, dass Stadt und Land umgeben sind von der wohl größten Atommüllhalde der Welt. Und beunruhigend ist nicht alleine die schiere Größe, sondern die Art der Aufbewahrung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten Militär und Geheimdienst das Ungemach nicht mehr geheim halten, und die Flotte musste zugeben, dass sie radioaktiven Abfall einfach ins Meer geschüttet hatte, Boote mit Reaktoren an Bord an Kais verrotteten und sich an Land Berge von radioaktivem Abfall angesammelt hatten. Damals ging eine Welle des Entsetzens durch ganz Europa. Den Gouverneur aber beunruhigt, dass seitdem zu wenig geschehen ist, um der Gefahr eines neuen Tschernobyl entgegenzuwirken.
Der Staatsrat tagt in einem der glänzenden Säle des Kreml, dort, wo allein das prunkende Gold schon den Gedanken an Armut und Verfall zurückweist. Die Versammlung der Gouverneure und Regierungsmitglieder, in der Präsident Putin den Vorsitz hat, hört Berichte aus den Provinzen. Gewöhnlich sind es Erfolgsberichte, nur ungern fällt man bei Hof durch Probleme oder Missgeschick auf. Doch Juri Jewdokimow, der gelernte Bauingenieur und langjährige Funktionär der KPdSU, lässt sich nicht bremsen. Im gehetzten Stakkato, weil die Redezeit knapp bemessen ist, hören am Abend auch seine Bürger im Murmansker Fernsehen, wie ihr Gouverneur die Lage beurteilt: Schon vor zehn Jahren hätten sich in dem militärischen Sperrgebiet über 200 außer Dienst gestellte Kernreaktoren befunden. Seitdem habe der Umfang zugenommen. Der Gouverneur spricht von Tausenden Kubikmetern festen und flüssigen radioaktiven Abfällen. „Das Strahlungspotenzial“, sagt er, „wird auf 150 Millionen Curie geschätzt.“ Um Ordnung zu schaffen auf dem Militärterritorium, brauche man mindestens eineinhalb Milliarden Dollar. Weil er weiß, dass der russische Staatshaushalt viel zu wenig Geld für die Aufbereitung des Mülls bereitstellt, soll das Ausland helfen.
Die beunruhigten Nachbarn, vor allem Norwegen, sind nur allzu bereit und haben auch schon Hilfe geleistet. Doch nur stockend geht die Arbeit voran. Und Gouverneur Jewdokimow verheimlicht dem Präsidenten nicht den Grund seiner Unzufriedenheit: Eine Hauptbedingung für die Geberländer sei die Möglichkeit, jene Orte zu besuchen, in die sie Geld investieren, um sich von der sachgerechten Nutzung der Gelder zu überzeugen. Doch Institutionen in Moskau würden solche Besuche erschweren oder ganz verhindern.
Aber nicht nur die Geheimdienste stellen sich ausländischen Helfern in den Weg. Die Zollbehörden wollen bei der Einfuhr von technischem Gerät mitverdienen, das Finanzamt bei den Hilfsgeldern. Der Präsident nannte das Thema „brisant“ und wandte sich gegen die „manische Spionageangst“, die ausländische Hilfe verhindere. Aber er sagte auch, dass die „Interessen der nationalen Sicherheit“ gewährleistet sein müssten. Wenn man in der Region Murmansk reist, hat man wenig Hoffnung, dass sich an dem Selbstbewusstsein der Sicherheitsorgane etwas ändert. Der Trend im Staat ist gegenläufig.
Das Fernsehteam, das ausgezogen war, das Leben im russischen Norden zu beschreiben, stieß allenthalben auf die Grenzen des Möglichen. Bei Dreharbeiten am Weiß-Meer-Kanal, dem ersten mit den Mitteln des Terrors vorangepeitschten Großprojekt Stalins, hat der örtliche Geheimdienstchef das Filmen einer Schleuse verboten, obwohl der Kanal längst jede wirtschaftliche und militärische Bedeutung verloren hat. Und er bestand darauf, schon gedrehtes Videomaterial anzuschauen.
Die Fjorde im Norden der Kola-Halbinsel, wo die Häfen der U-Boot-Flotte liegen, aber auch weiträumig verteilt der Atomschrott gelagert wird, sind völlig gesperrt. Selbst auf der Nerpa-Werft, wo außer Dienst gestellt U-Boote zerlegt und keineswegs neue gebaut werden, bekam das deutsche Team keine Drehgenehmigung, obwohl Deutschland gerade einen 300-Millionen-Dollarkredit bereitgestellt hat, um sich an dem Abbau der Gefahr zu beteiligen. Nur auf verschlungenen Wegen gelang es einem russischen Freund, mit einer Kamera an die Orte des Schreckens vorzudringen.
Die Bilder aus Grimmicha, Andrejew oder der Saida-Bucht sind bestürzend. Alte U-Boote der fünfziger und sechziger Jahre, die, immer noch mit Reaktoren bestückt, am Ufer vertaut sind. Boote, deren aufgerissene Schiffskörper von Lappen abgedeckt sind. Brüchige Gemäuer, in denen verbrauchte Brennstäbe lagern. Die unvorstellbare Menge von 24 000 Brennstäben allein in Andrejew. In der Saida-Bucht schwimmende Container, in die Reaktorgehäuse eingeschweißt sind. Damit sie nicht absacken, wird ihnen Luft zugepumpt. Dies ist der Stoff, aus dem man Albträume macht. Eine apokalyptische Landschaft, versteckt in der Winterschönheit des Nordens.
Die Welt wüsste weniger von der Gefahrenlage im Murmansker Gebiet, gäbe es nicht die Umweltorganisation Bellona. Ihre Berichte rüttelten in den neunziger Jahren die Öffentlichkeit auf. Geheimdienst und Militärstaatsanwaltschaft verfolgten über Jahre hinweg einen Mitarbeiter von Bellona in St. Petersburg. Alexander Nikitin, ehemaliger Offizier, hatte die Marine angeprangert wegen ihres fahrlässigen Umgangs mit der radioaktiven Gefahr. Als Verräter wurde er immer wieder vor Gericht gestellt, freigesprochen und aufs Neue angeklagt.
Dem Mitarbeiter von Bellona in Murmansk, Andrei Zolotkow, ist dieses Schicksal bislang erspart geblieben. Aber auch er registriert eine Verschärfung im Regime der Geheimdienste. Er hat Chemie studiert und fuhr in Sowjetzeiten als Ingenieur auf dem Atom-Eisbrecher „Lenin“, einem Veteranen der Flotte. Ihm blieb während seines Dienstes nicht verborgen, dass Merkwürdiges im Norden geschah. Die staatliche Reederei, zu der sein Eisbrecher gehörte, kippte nicht nur eigenen radioaktiven Abfall ins Meer, sondern auch den der Marine. Ganze U-Boote, sagt er, seien bei der Insel Nowaja Semlja versenkt worden.
Heute arbeitet er auf der Nerpa-Werf“, wo gerade das Wrack der „Kursk“ zerlegt wird. Daheim hat er im Computer all sein Wissen gespeichert. „Lieber einmal etwas sehen als 1000 Mal etwas hören“, ist seine Devise. Auf dem Bildschirm führt er vor, was ihm Sorgen macht – zum Beispiel die schwimmenden Container mit Reaktorgehäusen, von denen es immer mehr gebe. „Man muss diese Rümpfe an Land bringen. Dort können sie 50 oder 100 Jahre liegen. Das ist zuverlässiger, als wenn sie im Wasser schwimmen. Es hat Fälle gegeben, da sind alte U-Boote am Kai einfach abgesoffen.“
Bei jenen, die in den Fjordhäfen wohnen, gärt der Zorn. Eisiger Schneesturm treibt die Menschen über die Straße von Widjajewo, dem Heimathafen der „Kursk“. Die Häuser wurden in der Zeit der Aufrüstung hurtig in Beton gegossen und sind für das polare Klima nicht geeignet. Die Bewohner klagen über kalte Wohnungen, in denen es schwer sei, die Kinder vor Krankheiten zu bewahren. An den Fenstern dicke Eiskristalle, die sich zu Fantasieblumen ordnen und den Frost der Außenwelt nach innen tragen. Manchmal haben sie ein halbes Jahr keinen Sold bekommen, sagen sie. Jeder ist dann mit der Organisation des Überlebens beschäftigt. So sei es auch gewesen, als die „Kursk“ unterging.
Das Erschrecken über die erste Nachricht, die Gebete, die sie zum Himmel sandten – sie erzählen davon, als sei es gestern gewesen. Denn jene Seeleute, die aus dem Manöver nicht zurückkamen, waren ihre Freunde. „Wir ahnten natürlich, was geschehen war“, erzählt ein Offizier. „Und man hat diesen Unsinn verbreitet, dass Klopfzeichen zu hören waren. Wie kann man Klopfzeichen durch diese dicken Schiffswände hören?“ Um alles geheim zu halten, seien auch die Rettungsversuche viel zu spät unternommen worden. Es dürfe nicht so sein wie zu Sowjetzeiten, als alles totgeschwiegen wurde. „Damit wir besser leben können, muss man alles offen sagen.“
Russland tut sich schwer, mit seinen Gepflogenheiten zu brechen. Und es wäre wohl eine Verkürzung, jede Eigenart den Sowjetjahren zuzuschreiben. Manche Tradition geht viel weiter zurück. Wenn die Seeleute in Widjajewo sagen, nicht die Matrosen und Offiziere, sondern die oberste Führungsriege habe versagt, dann gilt das auch schon für militärische und zivile Katastrophen der Zarenzeit.
Die Nordmeerflotte in den Fjorden bei Murmansk war einst der Stolz der Sowjetunion. Ihre U-Boote sollten im Kriegsfall den Nordatlantik beherrschen, ihre Raketen die USA bedrohen. Auch Präsident Putin erwies ihr seine Reverenz, als er gleich nach seiner Wahl eine Fahrt auf einem Atom-U-Boot unternahm und sich dort in der Haltung eines Lord Nelson fotografieren ließ. Ob es die Einsicht war, dass er mit dem Gestus russischer Stärke nicht viel zu gewinnen hatte, oder ob es die Katastrophe der „Kursk“ war, die im Sommer des gleichen Jahres das Land erschütterte – seither gibt es keine Zeugnisse mehr davon, wie er mit Stolz auf diese Flotte schaut.